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„Hallo Nina“, schrieb eine Bekannte, „bist du nach dem Skandal immer noch begeistert von deinem E-Book-Reader? Du wirst die üblen Geschäftspraktiken dieser Firma doch nicht länger unterstützen wollen! Ich habe meinen Account dort jedenfalls gekündigt.“

Darunter prangte stolz die Marke des Mobiltelefons, von dem aus sie die E-Mail verschickt hatte. Die Geräte dieser Firma genießen Kultstatus, werden aber laut Presseberichten zum Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt.

Meine Mutter begann in den siebziger Jahren das südafrikanische Apartheidsregime zu bekämpfen, indem sie keine Produkte kaufte, die dort produziert wurden. Mein Vater verlangte trotzdem nach bitterer Orangenmarmelade und die gab es im örtlichen Supermarkt nur aus südafrikanischer Produktion. Meine Mutter besorgte ihm seine Marmelade, aber auf den Frühstückstisch musste sie mein Vater selbst stellen. Die Marmelade war in einer Blechdose verpackt, auf die bunte Vögel gezeichnet waren.

„Was ist das?“, fragte ich.

„Das gehört deinem Vater“, sagte meine Mutter.

„Aber was ist das?“

„Marmelade.“

„Kann ich die probieren?“

„Auf gar keinen Fall.“

Mein Vater aß demonstrativ ein Brot mit der verbotenen Marmelade. Ich schaute gierig zu.

„Willst du was ab?“, fragte er.

„Das magst du nicht“, sagte meine Mutter.

Mein Vater hielt mir seine Scheibe Brot hin. Ich biss schnell zu, bevor meine Mutter mich daran hindern konnte. Die Marmelade klebte bitter an meinem Gaumen.

„Magst du das?“, fragte mein Vater.

„Klar“, sagte ich.

„Du kannst mehr davon haben“, sagte der Vater.

„Auf gar keinen Fall“, sagte meine Mutter.

„Ich gebe dir gern etwas ab“, sagte mein Vater.

„Niemand in meiner Familie isst diese Marmelade außer deinem Vater“, sagte meine Mutter. „Da klebt Blut dran.“

Ich hatte noch den ekligen Geschmack im Mund.

„Du übertreibst“, sagte der Vater. Er biss mit Genuss in sein Brot. Ich sah, wie das Blut an seinen Lefzen hinunterlief. Ich schaute schnell weg.

Irgendwann ging das Apartheidsregime in die Knie. Ob es am Boykott meiner Mutter gelegen hat? Bittere Orangenmarmelade esse ich jedenfalls inzwischen ganz gern.

Vielleicht ist es ein Effekt frühkindlicher Prägung, aber seit Jahren, ach was, Jahrzehnten boykottiere ich Unternehmen und Produkte. Ich kann gar nicht aufzählen, was ich alles boykottiere. In manchen Fällen bin ich sehr konsequent, zum Beispiel, was Schusswaffen betrifft. In anderen Fällen bin ich es nur manchmal. Ich kaufe auch unfaire Schokolade, aber ich fliege nur, wenn ich es nicht vermeiden kann. Geschäfte, von denen ich glaube, dass sie ihre MitarbeiterInnen besonders schlecht behandeln, betrete ich nur selten. Beim Boykott-Quartettspiel hätte ich wahrscheinlich keine schlechten Karten, obwohl ich täglich faule Kompromisse mache.

Meinen E-Book-Reader werde ich nicht stilllegen. Ich weiß lauter gute Gründe, warum ich es nicht tun muss. Vielleicht bin ich wie mein Vater. Doch wäre meine Mutter damals so streng gewesen, wenn sie selbst bittere Marmelade nicht verabscheut hätte?