Sie nannten sie den Turmfalken. Der Name wurde von Generation zu Generation im Büro weitergegeben.
Wahrscheinlich ahnte sie selbst nichts davon. Sie sprachen sie als „Frau Gernsberger“ an, die einzige Kollegin, die sie siezten, abgesehen vom Chef, der nur selten vorbeikam und nicht dazugehörte.
Sie blieb für sich, zurückgezogen an ihrem Schreibtisch, in ihrem Turm. Daher der Falke vermutlich.
Die Digitalisierung hatte Einzug gehalten, die Ordnerwände hatten sich gelichtet und die meisten Schreibtische sahen nun so aus, wie sie sich die Innenarchitektin gewünscht hatte: leergefegt und kahl. Nur eine bunte Tasse, eine Plastikfigur oder ein Foto wies noch störrisch darauf hin, wer hier seine Tage verbrachte.
Der Turmfalke hockte weiterhin versteckt. Sie setzte den Nestbau fort, baute die Mauern aus Akten, Ausdrucken und Büchern höher. Sie erledigte ihre Arbeit zuverlässig, begegnete allen höflich, wenn auch frostig. Ihr war nichts vorzuwerfen.
Sie blieb auch in der Pause an ihrem Schreibtisch hinter den Türmen hocken und warf den anderen nur ein knappes „Mahlzeit“ hinterher.
Es gab Senfeier in der Kantine. Der Geruch lag in der Luft. Muffig und vertraut. Die meisten griffen zu. Sie teilten die Eier sauber in Viertel und begannen ordentlich zu essen, aber schon fingen sie an, Kartoffelbrei und Soße zu mischen, Täler und Berge zu formen, Flüsse und Seen. Das Gespräch blieb seltsam stockend, während sie sich verloren.
„Mit Essen spielt man nicht“, sagte Klaus.
Ertappt lachten sie und wischten mit der Gabel die Bilder von ihren Tellern.
Sie blieben in der Tür zum Großraumbüro stehen. Staubflocken tanzten in den Sonnenstrahlen, die diagonal durch den Raum schnitten. Der Turm war eingestürzt. Trümmer lagen über den Teppichboden verteilt. Der Platz des Turmfalkens war leer.
Sie bahnten sich einen Weg zu ihren Schreibtischen und wandten den Blick ab, während sie arbeiteten. Der Turmfalke kehrte nicht zurück und niemand stellte Fragen.
Dies ist eine ABC-Etüde, meine erste im April 2023. Drei Wörter mussten in einen Text von maximal 300 Wörtern eingefügt werden. Die Wörter für den April 2023 lauten Nestbau, tanzen und frostig und wurden gespendet von Anna-Lena mit ihrem Blog Meine literarische Visitenkarte.
Christiane stellt auf ihrem Blog “Irgendwas ist immer” regelmäßig eine neue Schreibaufgabe: Sie präsentiert eine Wortspende, die in einen Text zu integrieren ist, und sammelt die entstandenen ABC-Etüden. Ein vergnügliches Spiel, offen für alle, die Lust darauf haben.
Herzlichen Dank nochmals für die Inspiration, Anna-Lena und Christiane!