Clarissa kann’s nicht Lassen

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“Lächeln”, sagte die Stimme.

Clarissa hielt folgsam die Mundwinkel oben und legte den Kopf ein wenig schief.

“Überzeugender!” Die Stimme war nicht zufrieden. 

Clarissa ließ ihren Geist wandern. Dachte an Wälder, an den Duft einer blühenden Wiese, an ein liebliches Flußtal in der Sonne. 

“Hörst du mir zu?”’

Clarissas Augen begegneten schuldbewusst dem Blick ihres Gegenübers. 

“Bloß weil du unsere Meinung nicht teilst, kannst du sie nicht ausschalten wie ein Radio. Du musst zuhören. Wir kauen keine Mehrheitsmeinungen wieder. Wir hinterfragen. Wir sind offen für kritische Sichtweisen. Keine Zensur.”

“Freundlich bleiben!”, befahl die Stimme. Clarissa lächelte mit aller Kraft und blickte sanft. “Deutlicher”, mahnte die Stimme. “Wie wir es geübt haben!”

“Ich höre zu”, sagte Clarissa.

“Du grinst leutselig,” sagte das Gegenüber, “aber du hältst dich für schlau. Du sprichst es nicht aus, aber du nennst uns Querdenker. Diese Verunglimpfung für alle, die sich dem Mediendiktat nicht blind unterwerfen. Ihr beschimpft uns und habt selbst ein dickes Brett quer vorm Kopf.”

“Querdenken fand ich immer großartig”, sagte Clarissa. “Das hieß doch, nicht nur linear zu denken. Da gab es Bücher drüber. Und haben sich die Leute, die du zitierst, nicht selbst “Querdenker” genannt, als sie vor ein paar Jahren anfingen zu protestieren? Ich persönlich würde ja Querdenker*innen sagen.” 

Clarissa konnte einfach nicht an sich halten. 

“Mit Deppenlücke. Wie Schluckauf”, sagte das Gegenüber.” Quer denkst du nicht ein Stück. Du bist brav auf Linie.”

“Also ist quer doch gut?”

“Verdreh mir nicht das Wort im Mund.”

Clarissa hatte sich ihre Strafe eingehandelt. Eine halbe Stunde lang prasselten Worte auf sie herab. 

Die Stimme war enttäuscht. 

“Musst du unbedingt anecken? Morgen früh ziehen wir die Stellschrauben nach. Sonst schaffst du es nie, dich in deine Umgebung zu integrieren. Keine Widerworte und nicken, kann das denn so schwer sein?”


Dies ist eine ABC-Etüde. Drei Wörter mussten in einen Text von maximal 300 Wörtern eingefügt werden. Die Wörter für Mai 2023 hat sie selbst gespendet. Sie lauten Stellschraube, leutselig und integrieren.

Christiane stellt auf ihrem Blog “Irgendwas ist immer” regelmäßig eine neue Schreibaufgabe: Sie präsentiert eine Wortspende, die in einen Text zu integrieren ist, und sammelt die entstandenen ABC-Etüden. Ein vergnügliches Spiel, offen für alle, die Lust darauf haben.

Herzlichen Dank nochmals für die Inspiration Christiane!

Der Turmfalke

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Sie nannten sie den Turmfalken. Der Name wurde von Generation zu Generation im Büro weitergegeben. 

Wahrscheinlich ahnte sie selbst nichts davon. Sie sprachen sie als „Frau Gernsberger“ an, die einzige Kollegin, die sie siezten, abgesehen vom Chef, der nur selten vorbeikam und nicht dazugehörte. 

Sie blieb für sich, zurückgezogen an ihrem Schreibtisch, in ihrem Turm. Daher der Falke vermutlich.

Die Digitalisierung hatte Einzug gehalten, die Ordnerwände hatten sich gelichtet und die meisten Schreibtische sahen nun so aus, wie sie sich die Innenarchitektin gewünscht hatte: leergefegt und kahl. Nur eine bunte Tasse, eine Plastikfigur oder ein Foto wies noch störrisch darauf hin, wer hier seine Tage verbrachte. 

Der Turmfalke hockte weiterhin versteckt. Sie setzte den Nestbau fort, baute die Mauern aus Akten, Ausdrucken und Büchern höher. Sie erledigte ihre Arbeit zuverlässig, begegnete allen höflich, wenn auch frostig. Ihr war nichts vorzuwerfen. 

Sie blieb auch in der Pause an ihrem Schreibtisch hinter den Türmen hocken und warf den anderen nur ein knappes „Mahlzeit“ hinterher.

Es gab Senfeier in der Kantine. Der Geruch lag in der Luft. Muffig und vertraut. Die meisten griffen zu. Sie teilten die Eier sauber in Viertel und begannen ordentlich zu essen, aber schon fingen sie an, Kartoffelbrei und Soße zu mischen, Täler und Berge zu formen, Flüsse und Seen. Das Gespräch blieb seltsam stockend, während sie sich verloren. 

„Mit Essen spielt man nicht“, sagte Klaus.

Ertappt lachten sie und wischten mit der Gabel die Bilder von ihren Tellern. 

Sie blieben in der Tür zum Großraumbüro stehen. Staubflocken tanzten in den Sonnenstrahlen, die diagonal durch den Raum schnitten. Der Turm war eingestürzt. Trümmer lagen über den Teppichboden verteilt. Der Platz des Turmfalkens war leer. 

Sie bahnten sich einen Weg zu ihren Schreibtischen und wandten den Blick ab, während sie arbeiteten. Der Turmfalke kehrte nicht zurück und niemand stellte Fragen.  


Dies ist eine ABC-Etüde, meine erste im April 2023. Drei Wörter mussten in einen Text von maximal 300 Wörtern eingefügt werden. Die Wörter für den April 2023 lauten Nestbau, tanzen und frostig und wurden gespendet von Anna-Lena mit ihrem Blog Meine literarische Visitenkarte.

Christiane stellt auf ihrem Blog “Irgendwas ist immer” regelmäßig eine neue Schreibaufgabe: Sie präsentiert eine Wortspende, die in einen Text zu integrieren ist, und sammelt die entstandenen ABC-Etüden. Ein vergnügliches Spiel, offen für alle, die Lust darauf haben.

Herzlichen Dank nochmals für die Inspiration, Anna-Lena und Christiane!

April, April

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„April, April“, schrie der Bruder und lachte.

Babette schaute verwirrt auf die Seife in ihrer Hand. Die Oberfläche schäumte nicht. 

Der Bruder gackerte. „Wie doof du guckst“, sagte er.

„Was hast du mit der Seife gemacht?“

„Das errätst du nie.“

„Ist mir egal.“ Sie warf die Seife in den Mülleimer, griff nach dem Duschgel und wusch sich damit die Hände. Der Bruder kicherte immer noch. 

Am ersten April war Babettes Bruder noch unausstehlicher als an allen anderen Tagen des Jahres. Er plante lange vorher, womit er ihr und der Mutter eins auswischen konnte. 

Die Seife war heute Teil drei seiner Inszenierung. Gut, dass Babette jetzt zur Arbeit ging. Sie würde danach direkt eine Dichterlesung besuchen, nur damit sie aus dem Haus war. Leider würde sie vor Mitternacht zurück sein und weitere Scherze vorfinden. 

Sie überprüfte die Bremsen, die Halterung des Sattels und alle möglichen anderen Schrauben an ihrem Fahrrad. Letztes Jahr hatte sie sich das Handgelenk gebrochen, weil der Bruder scherzhafterweise das Vorderrad gelockert hatte. 

Warum fand sie nur keine eigene Wohnung? Seit drei Jahren suchte sie und kam nirgendwo unter. Nicht einmal ein WG-Zimmer hatte sie aufgetrieben. Der Bruder wollte nicht ausziehen. Er war zufrieden mit seinem Jugendzimmerchen, solange es gutes WLAN gab. 

Die Mutter schlief trotz Rückenschmerzen genügsam auf dem Sofa im Wohnzimmer. Offensichtlich nahm sie es als mütterliches Schicksal hin, auf ewig zu dritt in dieser Wohnung zu hausen. Sie würde nichts ändern. 

Um den Bruder loszuwerden, müsste Babette ihn an eine Frau mit Wohnung verkuppeln. Aber welche Frau würde diesen Mann aufnehmen, versorgen und ertragen? Außerdem ging der Bruder nicht unter die Leute. Er saß im Homeoffice oder spielte am Computer. Babette hatte ihm Tinder vorgeschlagen, aber er hatte abgewinkt.

Wie auch immer: Vor dem nächsten ersten April musste es eine Lösung geben. 


Dies ist eine ABC-Etüde, meine zweite im März 2023. Drei Wörter mussten in einen Text von maximal 300 Wörtern eingefügt werden. Die Wörter für den März 2023 lauteten Dichterlesung, genügsam und verkuppeln und wurden gespendet von Werner Kastens und seinem Blog Mit Worten Gedanken horten.

Christiane stellt auf ihrem Blog “Irgendwas ist immer” regelmäßig eine neue Schreibaufgabe: Sie präsentiert eine Wortspende, die in einen Text zu integrieren ist, und sammelt die entstandenen ABC-Etüden. Ein vergnügliches Spiel, offen für alle, die Lust darauf haben.

Herzlichen Dank nochmals für die Inspiration, Werner und Christiane!

Im Halbdunkel

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Sie verlagerte ihr Gewicht auf dem unbequemen Holzstuhl. Sie könnte eine Entschuldigung flüstern, aufstehen und gehen. Aber das wäre grob.

Sie müsste außerdem durch die fast leere Kneipe laufen und die Dichterlesung stören. Klapp klapp klapp würden ihre Schritte auf dem Holzboden dröhnen. Warum hatte sie die lauten Stiefel angezogen? Mit Sneakers könnte sie wegschleichen. 

Dennoch würden es alle bemerken. Der Dichter ließ die Worte durch seinen Bart auf das Manuskript sickern. Die Lesung war eine fast lautlose Performance: Mann liest Text und murmelt. 

Der Dichter war zudem schwer zu sehen. Eine Lampe warf einen grellen Kreis aus Licht auf den Tisch vor ihm, der Dichter selbst war nur stellenweise erleuchtet. 

Ihre Begleitung war ebenfalls nur schemenhaft zu erkennen. Sie war, was das Äußere betraf, inzwischen genügsam. Solange sie sich gut unterhielt, war sie bereit, unscheinbaren und schlecht gekleideten Männern eine Chance zu geben. Während der Dichterlesung konnte sie jedoch mit dem dunklen Fleck neben ihr kein Wort wechseln. 

Bei der Begrüßung hatte sie einen schütteren Bart wahrgenommen, eine dicke Brille und dahinter dunkle Augen, die ihrem Blick auswichen. Erstaunlich elegante Hände nestelten am Programm der Lesung. 

Warum wollte ihre Freundin Sabine sie mit diesem Mann verkuppeln? Sie hatte sich im Singleleben eingerichtet, suchte nicht aktiv eine Partnerschaft und verabredete sich nur sporadisch mit den Menschen, die ihr das Leben vor die Füße spülte. Doch Sabine war überzeugt gewesen. Ihr passt so gut zusammen, hatte sie gesagt. Er ist kreativ wie du. Er spielt Gitarre und singt dazu. 

Sie hatte letztlich nachgegeben und einem Treffen zugestimmt, obwohl sie Liedvorträge zur Klampfe verabscheute. 

Sie nahm einen Schluck vom modrigen Rotwein. Michael oder Martin hatte vorgeschlagen, sich bei dieser Lesung zu treffen. Der Plan dahinter blieb rätselhaft. Vielleicht redete er ungern. Hauptsache, er würde nicht anfangen zu singen. 


Dies ist eine ABC-Etüde. Drei Wörter mussten in einen Text von maximal 300 Wörtern eingefügt werden. Die Wörter für den März 2023 lauteten Dichterlesung, genügsam und verkuppeln und wurden gespendet von Werner Kastens und seinem Blog Mit Worten Gedanken horten.

Christiane stellt auf ihrem Blog “Irgendwas ist immer” regelmäßig eine neue Schreibaufgabe: Sie präsentiert eine Wortspende, die in einen Text zu integrieren ist, und sammelt die entstandenen ABC-Etüden. Ein vergnügliches Spiel, offen für alle, die Lust darauf haben.

Herzlichen Dank für die Inspiration, Werner und Christiane!

Ausreißerin

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Im Schnitt hing sie im Mittelmaß fest. Miese Einzelnoten drückten ihre Bestwerte jedes Mal nach unten. Sie ließen sie nicht gewinnen.  

Sie kannte die Mitglieder des Preisgerichts von anderen Wettbewerben. Sie konnte an ihren Mienen nichts ablesen. Die Blicke waren verschlossen, die Gesichtszüge in Stein gemeißelt. Ein Politbüro, das eine Parade abnahm. 

„Liebes, du bist gleich dran.“

Die Trainerin legte ihr den Arm um die Schultern. Als Kind hatte Dora ihre Berührungen gesucht, sich in ihre Nähe gedrängt. Vor jedem Einzeltraining hatte Dora die Haare zurückgezerrt, den Trainingsanzug zurechtgezupft, den Rücken kerzengerade ausgerichtet. Ordnung und Disziplin waren die Grundlage des Erfolgs. Sie saugte die Lehrsätze auf wie ein trockener Küchenschwamm. Sie betete sie zu Hause nach, auch wenn der Bruder sie nachäffte und die Eltern seufzten. 

Hatte die Trainerin sie geliebt? Sie hatte sie gelobt. Sie hatte ihr mehr Zeit gewidmet als den anderen. Sie hatte ihr eine Plüschmaus geschenkt, die abgewetzt in Doras Tasche lag. Inzwischen lächelte die Trainerin nicht mehr. Dora musste länger trainieren. Sie übte die Sprünge, die sie am wenigsten beherrschte, bis ihr Tränen über das Gesicht liefen und ihre Muskeln brannten. Doch die Trainerin brüllte nicht einmal mehr durch die Eishalle, wenn Dora patzte.  

Dora war eine Enttäuschung, vertane Liebesmühe.

Gefasst glitt sie auf die Eisfläche. Ihr Kostüm funkelte. Rote Steine auf blutrotem Stoff. Wenigstens das Kostüm zeigt Willensstärke, sagte die Trainerin. 

Die Musik setzte ein. Dora ließ sich mitreißen, sie öffnete ihren Körper weit, sprang hoch und kraftvoll, landete sicher. Sie strahlte. Sie hörte Applaus. Sie blickte zur Richterbank. Abschätzige Blicke trafen sie.

Sie lief wieder los, setzte weit über, holte Schwung und sprang höher als je zuvor. Sie flog über die Bande, den Preisrichtertisch und riss zwei Richterinnen mit sich zu Boden. Ihr letzter Rittberger war auf jeden Fall kein Mittelmaß.


Dies ist eine ABC-Etüde. Drei Wörter mussten in einen Text von maximal 300 Wörtern eingefügt werden. Die Wörter für den Februar 2023 lauteten Schnitt, rot und beherrschen und wurden gespendet von Myriade vom Blog la parole a été donnée à l´homme pour cacher sa pensée.

Christiane stellt auf ihrem Blog “Irgendwas ist immer” regelmäßig eine neue Schreibaufgabe: Sie präsentiert eine Wortspende, die in einen Text zu integrieren ist, und sammelt die entstandenen ABC-Etüden. Ein vergnügliches Spiel, offen für alle, die Lust darauf haben.

Herzlichen Dank für die Inspiration, Myriade und Christiane!