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Im Fernseher schmolz der Similaungletscher. Bild für Bild waren die Menschen moderner gekleidet und das Eis rückte weiter in die Ferne. Kein Zweifel, bald würde von dem Gletscher nur noch ein kläglicher Rest übrig sein. Und von den Menschen?

Sie stellte die Sendung aus. Sie wollte sich nicht Tag für Tag damit befassen. Was konnte sie schon dagegen tun. Sie saß hilflos in der Stube und ließ die Bilder an sich vorüberziehen.

Sie hatte alle möglichen Petitionen unterschrieben, eine Solaranlage aufgestellt und eine Dachbegrünung beauftragt. 

Auto fuhr sie ohnehin keines. Nur die Landärztin kam motorisiert zu ihr, daran trug sie Mitverantwortung. Entziehen konnte sie sich nicht. Was sie kaufte, was sie aß, was sie am Leibe trug, alles hatte eine Reise hinter sich, alles zog einen Schweif aus Müll und Dreck und Elend hinter sich her. Außer die wurmstichigen Äpfel aus dem Garten. Und selbst die hatten die Enkel gepflückt, nachdem sie sich im Auto oder mit dem Motorrad die Serpentinenstraße emporgewunden hatten.

An den Rändern ihres Sichtfelds tobte die Zerstörung, auch wenn sie den Blick starr geradeaus gerichtet hielt. Sie war Zeugin, wie die vertraute Welt zerfiel. Doch wozu sollte sie hinsehen, es würde kein Verhör mehr stattfinden.

Wenn sie den Fernseher ausließ und nicht ins Internet sah, waren die Änderungen so allmählich, dass sie sie vergessen konnte.  

Immer noch besuchten Bienen und Hummeln den verwilderten Garten, huschten Wasserläufer über den kleinen Teich. Die Enten schnappten träge danach und ließen sich treiben.

An Sommertagen träumte sie, es wäre kein Schiffbruch in Sicht. 

Aber dann zog Unwetter auf. Wetterleuchten zeichnete die Umrisse scharf. Es wurde dunkel und Regen fiel. 

Tropfen fielen auf den Gletscher. Sie fraßen winzige Löcher hinein, die wuchsen und sich vereinten. Das Wasser wusch Höhlen in das Eis. Rinnsale gruben sich tiefer und tiefer und trugen den Gletscher mit sich fort ins Tal. 

Das Eis gab frei, was es viele Tausend Jahre in sich geborgen hatte. Die Geister der Vergangenheit ruhten nicht länger. Sie tauchten auf und erwachten. Sie strömten mit dem Schmelzwasser aus den Bergen herab und suchten die Lebenden heim. 

In der Dunkelheit schwirrten Glühwürmchen ums Haus. Früher hatte es hier nur Mücken gegeben. Waren die Lichter die Lebensgeister der Vergangenheit? Sie holte die Fliegenklatsche aus der Schürzentasche und schlug um sich. 

“Geht zurück, lasst mich in Frieden”, rief sie. 

Doch die Lichter sammelten sich wieder. Sie tanzten ums Haus. Sie wollte wieder nach ihnen schlagen, aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Die Glühwürmchen kamen näher. Sie schwirrten um ihr Gesicht, ohne sie zu berühren. Behutsam hob sie eine Hand. Eine Wolke aus Lichtpunkten sammelte sich über der geöffneten Handfläche.

“Was wollt ihr von mir?”, fragte sie.

Die Lichter gaben keine Antwort. Doch sie schenkten ihr Verbundenheit in der Nacht unter dem sterbenden Gletscher. Wer auch immer sie waren, was auch immer sie verkörperten, sie warteten mit ihr auf das, was kommen würde.


Dies ist eine ABC-Etüde, genauer gesagt eine besondere ABC-Etüde für das Etüdensommerpausenintermezzo II-2021 von Christiane vom Blog “Irgendwas ist immer”.

Sieben (hier acht) von zwölf vorgegebenen Wörtern sollten in einem Text verwendet werden. Gewählt hatte ich: DachbegrünungFliegenklatsche, Glühwürmchen, Lebensgeister, Regen, Similaungletscher, Wasserläufer und Wetterleuchten.

Wer lesen möchte, was andere zu ihrer Wortauswahl geschrieben haben, findet auf Christianes Blog ab dem 5. September eine Zusammenstellung.
Danke für die Inspiration, Christiane! Ich freue mich auf die nächsten Runden ABC-Etüden in den nächsten Wochen und Monaten