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“Schau dir diesen Sonnenuntergang an!”

Claudia schrak hoch. Warum hatte sie den Nachrichtenkanal nicht stumm gestellt?

“Claudia? Hörst du mich?”

Claudia stellte das Mikrofon an. 

“Ich habe gearbeitet.”

“Diesen Sonnenuntergang musst du gesehen haben!”

Larissa würde keine Ruhe geben. Claudia stellte den Außenschirm auf durchsichtig. Ein Spektakel tauchte auf. Wolken leuchteten in allen Farben des Regenbogens.

Neben Claudia schwebte Larissa. Sie winkte.

“Großartig, oder? Du kannst dich nicht den ganzen Tag in deinem Cocon verstecken.”

“Der Roman schreibt sich nicht selbst.”

“Aber die Autorin muss sich etwas gönnen, sonst ist sie irgendwann nicht mehr kreativ.”

Apropos gönnen: Ich tastete mich zum Kühlschrank und goß mir ein Glas Weißwein ein. Ich ließ die Kapsel langsam drehen. Die Forsythien blühten. Die Straßen waren unter dichtem Gebüsch verschwunden. Auf einer Wiese grasten Rehe. Sie schauten auf, als ich näher kam, aber sie liefen nicht weg. Ich würde nicht aussteigen. 

Ich hatte die Kapsel seit zehn Jahren nicht mehr verlassen. Ich war daran gewöhnt, im warmen Nest zu sitzen und über die Landschaft zu fliegen. Hatte ich davon früher nicht geträumt? Flügel hatte ich natürlich keine. 

Eine Elster flog knapp an meiner Kapsel vorbei und setzte sich vor mir auf einen Ast. Sie schaute mich an und keckerte. Ich hatte die Außenmikrofone nicht an, aber ich konnte sie in meinem Kopf hören. Ich hatte gelernt, den Soundtrack aus meinen Erinnerungen zusammenzufügen. Die Elster schien sich über mich lustig zu machen. Und sie hatte recht, es war lächerlich: die früheren Herren und Herrinnen der Schöpfung saßen fest in plumpen Kunststoffkugeln. 

Wir waren die, die übrig waren, erzählten sie uns im Fernsehen. Wer weiß, ob es wahr war. Vielleicht lebten noch andere Menschen. Vielleicht lebten sie im Freien, wurden nass vom Regen, verbrannten sich im Sommersonnenschein und würden erfrieren, wenn sie sich in harten Wintern nicht schützten. Von ihnen wurde uns nicht berichtet. 

Wir schaukelten sanft über das Land, schwebten über Seen und Wälder. Die Membran schützte uns vor Kälte, Nässe und vor dem Virus. 

Jeden Tag dockten unsere Kapseln ganz ohne unser Zutun an einer Versorgungsstation an. Dort wurden sie gereinigt, Vorräte aufgefüllt und kleine Reparaturen durchgeführt. Auch medizinische Behandlungen fanden zumeist in den Kapseln statt. Die Technik war darauf ausgerichtet, uns am Leben zu halten. Wir wurden zur Bewegung animiert, ernährt und unterhalten. Wir arbeiteten im Homeoffice und hatten keine Sorgen. Hatte ich früher darum kämpfen müssen, meine Romane zu veröffentlichen, wurden sie mir jetzt ohne Widerspruch abgenommen und veröffentlicht. Ob das daran lag, dass nicht mehr viele Autorinnen übrig waren, oder daran, dass sie mich bei Laune halten wollten, konnte ich nicht beurteilen. Ich zog es vor, mir zu sagen, dass ich schriftstellerisch gereift sei. 

“Bist du eingeschlafen?” 

Larissa wollte unterhalten werden. Sie führte ihre Kapsel sehr nahe an meine heran. Ich sollte mich freuen, einen anderen Menschen gefunden zu haben, der mich gerne sehen wollte. Ich winkte und begann mich mit ihr zu unterhalten.


Eine ABC-Etüde zu den Wörtern: Sonnenuntergang, warm, fliegen, Forsythien, lächerlich, erfrieren. Diese sechs Wörter sollten in einem Text von maximal 500 Wörtern sinnvoll eingesetzt werden. Diese Wörter sind eine Spende von Elke H. Speidel (Transworte auf Litera-Tour) und Corly (Corlys Lesewelt).

Christiane vom Blog „Irgendwas ist immer“ stellt alle zwei Wochen eine neue Schreibaufgabe: Sie präsentiert eine Wortspende, die in einen Text zu integrieren ist, und sammelt die entstandenen ABC-Etüden. Ein vergnügliches Spiel, offen für alle, die Lust darauf haben.

Vielen Dank für die Inspiration Elke, Corly und Christiane!