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Dracheninsel„Wo wohnst du denn?“

„Du wirst schon sehen.“

„Und du erzählst mir keinen Scheiß?“

„Vertraue mir.“
„Das sagt der Axtmörder sicher auch.“

Er blieb stehen, seufzte und schaute ihr tief in die Augen. „Glaubst du, dass ich der Axtmörder bin?“

„Nein, nein“, sagte sie. Aber wer weiß, vielleicht hatte der Axtmörder auch so einen weichen, sanften Blick. Ihr fehlte da zum Glück die Erfahrung.

„Ich habe keine Hintergedanken.“

Da war sie doch ein wenig enttäuscht. Er sah es ihr an und lächelte. „Jedenfalls möchte ich ihn dir auf jeden Fall zeigen. Wenn es dich interessiert.“

„Unbedingt.“

Er setzte sich wieder in Bewegung. Als sie in eine winzige Gasse abbogen, fragte sie sich, ob sie es in ein paar Stunden immer noch für eine gute Idee halten würde, dass sie ihm gefolgt war. Sie hätte in diesem kleinen Örtchen keine so düsteren Winkel vermutet. Doch sie war neugierig.
„Komm mit“, hatte er gesagt. „Ich zeig ihn dir. Dann weißt du, dass ich das nicht erfunden habe.“

Sie hatten sich vor ungefähr einer Stunde kennengelernt. Eigentlich war sie mit ein paar Frauen aus dem Hotel in die Bar gegangen. Aber dann kam sie mit dem stillen Mann ins Gespräch, der mit seinem Bier am Ende der langen Tafel saß. Er war kein Tourist, aber auch kein Einheimischer. Er lebte hier seit einigen Jahren und schrieb Bücher. In seinem Refugium habe er seine Blockade durchbrochen. Er könne gar nicht so schnell tippen, wie die Worte aus ihm herausflössen. Vier Bände seines fünfbändigen Romanzyklus habe er schon fertig. Bald wäre es soweit, dass er an einen Verlag herantreten würde.

„Erst jetzt?“, fragte sie.

„Ich wollte sicher sein, dass mich die Inspiration nicht verlässt“, antwortete er.

Schriftsteller also, dachte sie. Das konnte auch eine gute Aufreißergeschichte sein. Vielleicht lebte er eigentlich davon, in den Sommermonaten Touristinnen zu beglücken. Bei ihr war nicht viel zu holen außer ein paar Abendessen. Das war ihm hoffentlich klar.

Es erschien ihr unverschämt, aber sie fragte dennoch: „Wovon lebst du denn in deinem Refugium während des Schreibens?“

„Das ist kein Problem“, antwortete er.

„Du hast schon einen Bestseller geschrieben?“

„Nein.“ Er lachte.

„Bist du Privatier? Reicher Erbe?“

„Auch nicht.“ Doch ein Gigolo. „Ganz anders“, fuhr er fort. Er schaute sie nachdenklich an.

„Würde es mich schockieren?“, fragte sie.

Er lachte wieder. „Ich denke nicht. Aber du würdest mir nicht glauben.“

„Doch!“ Sie wollte es jetzt wissen.

„Kannst du ein Geheimnis bewahren?“

„Auf jeden Fall“, sagte sie schnell, obwohl ihr im selben Moment einige Situationen einfielen, in denen sie sich verplappert hatte.

„Na gut“, sagte er. „Aber ich erzähle es dir nicht, ich kann es dir nur zeigen.“

*****

Als er in die Bucht gekommen war, hatte er nur Geld für einige Wochen. Er hoffte, dass er hier einen Anfang finden würde und später, in seinem eigentlichen Leben, eine Möglichkeit weiterzuschreiben. Es musste gehen. Er wurde älter und älter und die Schreibstunden in seiner Sanduhr rannen davon. Tatsächlich schrieb er. Er saß in seinem kleinen Zimmerchen an dem Tisch mit dem wackeligen Bein und hämmerte in die Tasten. Er schrieb auch am Strand und oben im Café über den Felsen. Doch obwohl er sparsam lebte, versickerte das Geld. Schließlich hatte er nur noch sein Rückflugticket und das Geld für den Bus zum Flughafen. Am letzten Abend saß er am Strand, trank Ouzo aus der Flasche und tat sich leid. Vor ihm ragte die Dracheninsel aus dem Wasser. In den letzten Wochen hatte er sie oft angestarrt, aber er war noch nie dort gewesen. Das würde er ändern. Er stand auf, zog die Kleider aus und stapfte ins Meer. Er schwamm hinaus und hielt auf die Insel zu. Als er sie erreichte, war er enttäuscht. Was ihn so lange mit bizarren Konturen begeistert hatte, sah aus der Nähe aus wie ein Klumpen Steine. Er blieb nur kurz auf einem Felsen sitzen, um Kraft zu sammeln, dann ließ er sich wieder ins Wasser gleiten.

Etwas kreiste um seinen Kopf.

Er fuchtelte, so gut es während des Schwimmens ging, mit den Armen, um es zu verjagen. Ein Vogel? Eine frühe Fledermaus? Das Tier ließ nicht von seinem Kopf ab. Er drehte sich auf den Rücken und sah Zacken und Krallen, grelles Rot, schnelle Bewegungen. Schützend hielt er die Hand über den Kopf. Er schluckte Wasser und musste husten. Er schwamm, so schnell er konnte, zurück an den Strand. Das Ding folgte ihm. Als er stehen konnte, drehte er sich um und versuchte wieder, es zu vertreiben. Doch es hielt gerade so viel Abstand, dass er nur hilflos mit den Armen durch die Luft ruderte.

Jetzt erkannte er, was es war. Kein Vogel, keine Fledermaus, es war ein kleiner, roter Drache, der hektisch mit den Flügeln schlug und einen langen, dornenbewehrten Schwanz durch die Luft schnellen ließ. Zwei gelbe Augen waren fest auf ihn geheftet.

Er lief zum Strand, fand seine Kleider und den halb leeren Ouzo. Hatte er so viel getrunken? Doch der Drache schien wirklich vorhanden zu sein. Er zog sich hastig an und rannte zu seinem Zimmer. Der Drache flatterte um seinen Kopf. Er schlug ihm die Tür vor der Nase zu, aber wie immer sprang die Tür wieder auf. Der Drache schoss durch den Spalt, bevor er die Tür richtig schließen konnte. Dann ließ er sich auf der Stuhllehne nieder und klammerte sich mit seinen sehr langen und scharfen Krallen fest. Er ließ seinen Gastgeber nicht aus dem Blick und schien auf etwas zu warten.

Er blieb unbewegt an der Tür stehen. Sobald er nach der Klinke griff, fauchte der Drache und duckte sich absprungbereit. Es war klar, er sollte das Zimmer nicht verlassen. Nach einer Weile zitterten seine Knie so sehr, dass er sich setzen musste. Er wählte den Hocker und überließ den Stuhl großzügig dem Drachen. Er hatte keine Idee, was er tun konnte. Den Ouzo hatte er die ganze Zeit in der Faust gehalten. Jetzt stellte er ihn auf den Tisch. Der Drache schaute fasziniert zu. Er schraubte die Flasche auf, genehmigte sich einen Schluck und stellte die Flasche wieder zurück. Der Drache drückte sich ab, schoss auf die Flasche zu, er zog erschreckt die Hand zurück, der Drache schubste die Flasche um. Ouzo floss auf die Tischplatte. Das war die letzte Flasche, war sein erster Gedanke. Er griff nach der Flasche und stellte sie wieder hin. Der Drache leckte mit einer langen, orange leuchtenden Zunge den verschütteten Ouzo auf. Der Alkohol schien ihm zu bekommen. Seine Schuppen begannen zu funkeln. Als der Drache die Pfütze aufgeschlürft hatte, schaute er auffordernd zur Flasche und fauchte. Weiterer Ouzo wurde auf den Tisch geschüttet. Der Drache leuchtete im halbdunklen Zimmer wie eine Laterne. Seine Augen glitzerten, selbst seine Krallen schienen mit Diamanten besetzt zu sein. Dann fing er an zu husten. Eine kleine Rauchwolke stieg aus seinen Nüstern auf. Würde er gleich das Haus abbrennen? Der Drache würgte, doch statt Flammen fiel eine glänzende runde Scheibe aus seinem Maul. Und noch eine. Insgesamt siebzehn Eurostücke landeten auf dem Tisch.

*****

Das Zimmer lag im ersten Stock eines verfallenen Hauses. Putz war in großen Stücken abgefallen. Die Tür ließ sich mit etwas Nachdruck öffnen, sprang aber nach dem Schließen zunächst wieder auf. Der Schriftsteller drückte sie vorsichtig zu und diesmal hielt sie. Im Zimmer war es düster, nur auf der Fensterbank leuchtete eine warme Laterne. Nein, keine Laterne. Sie ging langsam darauf zu. Ein etwa unterarmlanger Drache hatte sich auf einem Berg Euromünzen zusammengerollt und schien zu schlafen. Daneben stand eine Flasche Ouzo und ein Wasserschälchen mit einer klaren Flüssigkeit darin.

Tatsächlich hätte sie das nicht geglaubt.

„Du kannst ihn streicheln“, sagte er.

„Schläft er nicht?“

„Nein, er ist nur betrunken.“

Sie streckte die Hand aus und fuhr mit dem Zeigefinger vorsichtig über die leuchtende Haut. Ein Auge öffnete sich und schloss sich gleich wieder. Der Drache räkelte sich und drehte den weichen, gelb schimmernden Bauch nach oben. Sie kraulte ihn. Der Schriftsteller erzählte, was es mit dem Drachen auf sich hatte.

„Und er trinkt nur Ouzo?“, fragte sie.

„Er frisst auch Fliegen und Mücken. Aber Münzen spuckt er ausschließlich mit Ouzo.“

„Wie praktisch. Und was für ein Zufall, dass du ihn gefunden hast.“

„Ich glaube nicht an Zufall“, sagte der Schriftsteller.

Sie griff nach einer Euromünze. Eine kleine Krallenpfote legte sich zart, aber warnend auf ihre Hand. Sie ließ die Münze los und streichelte den Drachen weiter.

„Nur mir gibt er etwas ab“, sagte der Schriftsteller.

„Toll“, sagte sie. „Du hast ausgesorgt.“

„Naja“, sagte er. „Es sind so ungefähr zwanzig Euro am Tag und er muss immer genug behalten, um darauf gemütlich liegen zu können. Außerdem mache ich mir Sorgen, was passiert, wenn es zu einem Grexit kommt. Spuckt er dann Drachmen?“

Sie schaute genauer hin. Der Drache lag auf einem Bett griechischer Ein-Euro-Münzen. Kleine Eulen guckten sie an. „Ach was,“, sagte sie. „Mach dir keine Gedanken. Es wird eine Lösung geben. Vielleicht kommt kein Grexit. Vielleicht wechselt er die Währung einfach mit. Irgendwie hat er ja auch die Kurve zum Euro gekriegt. Schließlich wird es diese Drachen bestimmt schon länger geben.“

„Ich habe mich vorsichtig umgehört. Niemand weiß etwas von kleinen Drachen.“

„Vielleicht schweigen sie einfach?“ Reich sah der Ort nicht aus, doch irgendwie kamen die Leute durch. Da wäre so ein kleiner Gelddrachen im Zimmer nicht unpraktisch.

„Es hat keinen Sinn, sich zu sorgen“, sagte er. „Ich sollte mich einfach freuen, dass er zu mir gekommen ist.“

„Genau. Du glaubst doch nicht an Zufall. Schreibe einfach weiter. Ich verrate nichts.“

„Danke“, sagte er schlicht.

Dann holte er eine Flasche Wein und zwei Gläser aus dem Regal. „Kommen wir nun zu meinen Hintergedanken.“