Schlagwörter
ABC-Etüde, Brausepulver, Erinnerung, Essen, Kindheit, Schule, Sport, Wackelpudding
„Wie wars in der Schule?“
„Gut.“
„Warum frag ich. Du erzählst ja nichts.“
Ich löffle Pichelsteiner Eintopf. Das Gemüse ist weich, ich brauche nicht kauen. Salzige Wärme rutscht durch die Speiseröhre nach unten. Nach dem Radfahren sind meine Beine kalt. Regen läuft in Streifen über die Fensterscheibe.
„Was habt ihr in Sport gemacht?“, fragt sie nach einem Blick auf meinen Stundenplan am Küchenschrank.
„Stufenbarren“, sage ich und esse.
„Wie schön“, sagt sie. „Felgaufschwung?“
„Auch.“
„Felgaufschwung war meine Spezialität. Und den Stufenbarren habe ich geliebt.“
Ich fürchte den Stufenbarren. Ich klammere mich panisch fest und werde morgen viele blaue Flecken haben, obwohl ich den Felgaufschwung nicht einmal versucht habe.
„Besser war nur das Reck. Und Leichtathletik“, sagt sie. „Ich konnte schneller laufen als alle anderen. Was für ein Spaß.“
Ich esse weiter. Sie schwärmt von früher. Ich hätte sie gehasst, wenn sie in meiner Klasse gewesen wäre. Sie hätte mich gehänselt und verspottet. Brillenschlange. Sandsack. Feigling.
Neben der Spüle steht der Nachtisch. Grüner Wackelpudding.
Sie sieht meinen Blick.
„Erst der Eintopf, dann der Nachtisch.“
Ich kenne die Regeln. Süßes muss ich verdienen oder heimlich am Kiosk kaufen wie das Brausepulver, das so köstlich auf der Zunge knistert.
Mein Löffel kratzt über das Bild am Boden des Tellers. Unter dem Eintopf fährt eine Kutsche mit vier Pferden an einem Bauernhaus vorbei. Rote Linien auf weißem Grund. Sobald ich das Bild freigegessen habe, bekomme ich den Wackelpudding.
Den Endiviensalat in Essigsauce habe längst hinuntergewürgt und der Eintopf ist sanft und freundlich. Ich esse mich unverdrossen auf den Nachtisch zu.
Der Wackelpudding leuchtet. Ich schneide mit dem Löffelchen eine Flusslandschaft in die glatte Oberfläche und lasse Vanillesauce in die Vertiefungen laufen. Im Mund platzt der zuckersüße Glibber und mischt sich mit der milden Sauce. Mit geschlossenen Augen genieße ich einen Moment im Paradies.
Dies ist eine ABC-Etüde. Drei Wörter mussten in einen Text von maximal 300 Wörtern eingefügt werden. Die Wörter stiftete diesmal Tanja mit ihrem Blog Stachelbeermond. Sie lauten: Wackelpudding, unverdrossen und knistern.
Christiane vom Blog „Irgendwas ist immer“ stellt alle zwei Wochen eine neue Schreibaufgabe: Sie präsentiert eine Wortspende, die in einen Text zu integrieren ist, und sammelt die entstandenen ABC-Etüden. Ein vergnügliches Spiel, offen für alle, die Lust darauf haben.
Herzlichen Dank für die Inspiration, Tanja und Christiane!
gkazakou sagte:
ein echter Wackelpudding-Genuss!
Nina Bodenlosz sagte:
Vielleicht sollte ich den echt mal wieder essen … gibt es bestimmt jetzt auch ohne Gelatine 🙂 Viele Grüße und gute Nacht – Nina
Pingback: Schreibeinladung für die Textwoche 05.22 | Extraetüden | Irgendwas ist immer
Christiane sagte:
Immer wieder Kunststücke, deine Etüden. Fein, rund, gut! Wie, äh, Eis, das es bei uns leider nie als Nachtisch gab, als ich Kind war … 😉
Mittagskaffeegrüße 😁🌬️🌦️☕🍪👍
stachelbeermond sagte:
Oh, da sind aber viele Unterspülungen im Text… das wird vermutlich eine schwierige Teenagerzeit werden.
Solche Teller kenne ich auch, bei uns waren sie grün und es gab Postkutschen darauf…
Werner Kastens sagte:
Immer das Bild frei essen? Bei uns hieß es immer nur: Der Teller muss aufgegessen werden, damit es schönes Wetter gibt. Aber vor dem Essen gab es einen Löffel Lebertran. Igitt, wenn ich daran noch denke.
Olpo Olponator sagte:
Ein Genuß… Danke.