Schlagwörter
ABC-Etüde, Dichterlesung, Lesung, Männer, Singleleben, Wunder des Alltags
Sie verlagerte ihr Gewicht auf dem unbequemen Holzstuhl. Sie könnte eine Entschuldigung flüstern, aufstehen und gehen. Aber das wäre grob.
Sie müsste außerdem durch die fast leere Kneipe laufen und die Dichterlesung stören. Klapp klapp klapp würden ihre Schritte auf dem Holzboden dröhnen. Warum hatte sie die lauten Stiefel angezogen? Mit Sneakers könnte sie wegschleichen.
Dennoch würden es alle bemerken. Der Dichter ließ die Worte durch seinen Bart auf das Manuskript sickern. Die Lesung war eine fast lautlose Performance: Mann liest Text und murmelt.
Der Dichter war zudem schwer zu sehen. Eine Lampe warf einen grellen Kreis aus Licht auf den Tisch vor ihm, der Dichter selbst war nur stellenweise erleuchtet.
Ihre Begleitung war ebenfalls nur schemenhaft zu erkennen. Sie war, was das Äußere betraf, inzwischen genügsam. Solange sie sich gut unterhielt, war sie bereit, unscheinbaren und schlecht gekleideten Männern eine Chance zu geben. Während der Dichterlesung konnte sie jedoch mit dem dunklen Fleck neben ihr kein Wort wechseln.
Bei der Begrüßung hatte sie einen schütteren Bart wahrgenommen, eine dicke Brille und dahinter dunkle Augen, die ihrem Blick auswichen. Erstaunlich elegante Hände nestelten am Programm der Lesung.
Warum wollte ihre Freundin Sabine sie mit diesem Mann verkuppeln? Sie hatte sich im Singleleben eingerichtet, suchte nicht aktiv eine Partnerschaft und verabredete sich nur sporadisch mit den Menschen, die ihr das Leben vor die Füße spülte. Doch Sabine war überzeugt gewesen. Ihr passt so gut zusammen, hatte sie gesagt. Er ist kreativ wie du. Er spielt Gitarre und singt dazu.
Sie hatte letztlich nachgegeben und einem Treffen zugestimmt, obwohl sie Liedvorträge zur Klampfe verabscheute.
Sie nahm einen Schluck vom modrigen Rotwein. Michael oder Martin hatte vorgeschlagen, sich bei dieser Lesung zu treffen. Der Plan dahinter blieb rätselhaft. Vielleicht redete er ungern. Hauptsache, er würde nicht anfangen zu singen.
Dies ist eine ABC-Etüde. Drei Wörter mussten in einen Text von maximal 300 Wörtern eingefügt werden. Die Wörter für den März 2023 lauteten Dichterlesung, genügsam und verkuppeln und wurden gespendet von Werner Kastens und seinem Blog Mit Worten Gedanken horten.
Christiane stellt auf ihrem Blog “Irgendwas ist immer” regelmäßig eine neue Schreibaufgabe: Sie präsentiert eine Wortspende, die in einen Text zu integrieren ist, und sammelt die entstandenen ABC-Etüden. Ein vergnügliches Spiel, offen für alle, die Lust darauf haben.
Herzlichen Dank für die Inspiration, Werner und Christiane!
gkazakou sagte:
O weh! Die Frau weiß nicht, was sie will. Will sich nicht verkuppeln lassen und geht doch, will aus der Lesung verschwinden, bleibt doch, will sich gut unterhalten und langweilt sich zu Tode….. Armes Würstchen, das „unscheinbaren und schlecht gekleideten Männern eine Chance zu geben“ bereit ist. Komm schon runter von deinem hohen Ross! möchte ich ihr zurufen.
Toll geschrieben wie immer.
Werner Kastens sagte:
Kann man sich gut vorstellen, wie die Worte durch den Bart sickern. Wenn er auch so langweilig Gitarre spielt, dann kann ich ihre Entscheidung nachvollziehen.
Die Worte schön untergebracht!
Christiane sagte:
Ich finde nicht, dass sie nicht weiß, was sie will. Wem soll man denn glauben, wenn nicht einer Freundin? Sie probiert etwas aus und scheint bisher damit zu scheitern. Vielleicht ist Michael oder Martin ja bloß introvertiert und ihre Erscheinung verschreckt ihn … 😉
Wie immer wünsche ich mir, dass die Geschichte weitergeht – und wie immer freue ich mich, dass du sie geschrieben hast. Danke!
Mittagsteegrüße ⛅🍵🍪
blaupause7 sagte:
der modrige Rotwein würde mir ja bei so einer nur mit Vorbehalten aufgesuchten Veranstaltung den Rest geben.
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