Schlagwörter
ABC-Etüde, Anerkennung, Eislauf, Mittelmaß, Preisrichter, Preisrichterin, Wettbewerb
Im Schnitt hing sie im Mittelmaß fest. Miese Einzelnoten drückten ihre Bestwerte jedes Mal nach unten. Sie ließen sie nicht gewinnen.
Sie kannte die Mitglieder des Preisgerichts von anderen Wettbewerben. Sie konnte an ihren Mienen nichts ablesen. Die Blicke waren verschlossen, die Gesichtszüge in Stein gemeißelt. Ein Politbüro, das eine Parade abnahm.
„Liebes, du bist gleich dran.“
Die Trainerin legte ihr den Arm um die Schultern. Als Kind hatte Dora ihre Berührungen gesucht, sich in ihre Nähe gedrängt. Vor jedem Einzeltraining hatte Dora die Haare zurückgezerrt, den Trainingsanzug zurechtgezupft, den Rücken kerzengerade ausgerichtet. Ordnung und Disziplin waren die Grundlage des Erfolgs. Sie saugte die Lehrsätze auf wie ein trockener Küchenschwamm. Sie betete sie zu Hause nach, auch wenn der Bruder sie nachäffte und die Eltern seufzten.
Hatte die Trainerin sie geliebt? Sie hatte sie gelobt. Sie hatte ihr mehr Zeit gewidmet als den anderen. Sie hatte ihr eine Plüschmaus geschenkt, die abgewetzt in Doras Tasche lag. Inzwischen lächelte die Trainerin nicht mehr. Dora musste länger trainieren. Sie übte die Sprünge, die sie am wenigsten beherrschte, bis ihr Tränen über das Gesicht liefen und ihre Muskeln brannten. Doch die Trainerin brüllte nicht einmal mehr durch die Eishalle, wenn Dora patzte.
Dora war eine Enttäuschung, vertane Liebesmühe.
Gefasst glitt sie auf die Eisfläche. Ihr Kostüm funkelte. Rote Steine auf blutrotem Stoff. Wenigstens das Kostüm zeigt Willensstärke, sagte die Trainerin.
Die Musik setzte ein. Dora ließ sich mitreißen, sie öffnete ihren Körper weit, sprang hoch und kraftvoll, landete sicher. Sie strahlte. Sie hörte Applaus. Sie blickte zur Richterbank. Abschätzige Blicke trafen sie.
Sie lief wieder los, setzte weit über, holte Schwung und sprang höher als je zuvor. Sie flog über die Bande, den Preisrichtertisch und riss zwei Richterinnen mit sich zu Boden. Ihr letzter Rittberger war auf jeden Fall kein Mittelmaß.
Dies ist eine ABC-Etüde. Drei Wörter mussten in einen Text von maximal 300 Wörtern eingefügt werden. Die Wörter für den Februar 2023 lauteten Schnitt, rot und beherrschen und wurden gespendet von Myriade vom Blog la parole a été donnée à l´homme pour cacher sa pensée.
Christiane stellt auf ihrem Blog “Irgendwas ist immer” regelmäßig eine neue Schreibaufgabe: Sie präsentiert eine Wortspende, die in einen Text zu integrieren ist, und sammelt die entstandenen ABC-Etüden. Ein vergnügliches Spiel, offen für alle, die Lust darauf haben.
Herzlichen Dank für die Inspiration, Myriade und Christiane!
gkazakou sagte:
toll, einfach nur toll. Wie immer. Du bist eine hinreißende Erzählerin.
Nina Bodenlosz sagte:
Vielen Dank, das freut mich sehr 🙂
Christiane sagte:
„Wenigstens das Kostüm zeigt Willensstärke“ – was für eine ausgesuchte Gemeinheit. Empathie: null. Armes Mädchen.
Ich zweifle eigentlich nicht daran, dass es solche Fälle oft gibt, natürlich nicht nur beim Eislaufen, aber in Lehrer*in-Schüler*in-Verhältnissen. Ach, wie furchtbar.
Großartig geschrieben, vielen Dank! Ich freue mich, dass du weiter mitschreibst. Aus Gründen, die ich nicht kenne, nimmt die aktuelle Schreibeinladung keine Pings mehr an, könntest du vielleicht bitte den Link per Hand nachtragen?
Herzliche Morgenkaffeegrüße 🌧️☕🍪
Nina Bodenlosz sagte:
Mich hat interessiert, welche Beziehung das Mädchen zu der kalten Trainerin hat. Das muss sehr weh tun und Verzweiflung und letztlich Wut auslösen, wenn sie langsam kapiert, dass sie als Mensch gar nicht von Bedeutung ist.
Herzliche Grüße, habe die Etüde „drüben“ jetzt auch eingestellt.
Nina
gkazakou sagte:
Das ist ganz klar rübergekommen. Der Schluss befreit sie und mich als Leserin von dem Alp des Erwachens aus einem Liebestraum.
Werner Kastens sagte:
Die Kraft der Aussichtslosigkeit entfesselt.
fundevogelnest sagte:
„Aufsaugte wie ein trockener Küchenschwamm“, finde ich ein tolles Bild.
Und der Abgang ist auf jeden Fall gelungen..
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