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„Ich mag die nicht“, sagte Frau Meinel. „Die ist aus der Baracke!“
„Das ist doch ihre Zimmernachbarin.“
„Man sieht der die Baracke an. Ein barfüßiges Luder ist und bleibt sie.“
„Kennen Sie sich von früher?“
„Ich kenn solche nicht.“
Die Meinel wendete umständlich mit dem Rollator. Die Pflegerin half nicht, behielt sie aber im Blick, falls sie das Gleichgewicht verlieren sollte.
„Alte Nazi-Schlampe“, sagte die Schneider.
„Ich muss doch sehr bitten“, meinte die Pflegerin.
„Sie doch nicht, die Meinel.“
„Nicht in diesem Tonfall bitte!“
„Wir können noch ganz anders, Fräulein.“
„Frau bitte“, sagte die Pflegerin.
„Frau! Die ist ein halbes Kind“, zischte die Meinel. Sie schob den Rollator im Schneckentempo den Gang entlang.
„Da sehen Sie‘s“, sagte die Schneider. „Keinen Respekt. Wenn sie die Wahl hätte, würde sie sich von einer wie ihnen nicht den Po abwischen lassen.“
„Einer wie mir?“, fragte die Pflegerin.
„Na, Sie wissen doch.“
„Nein.“
„Einer, die nicht von hier kommt.“
„Stimmt, ich bin in Hannover aufgewachsen. Sie und Frau Meinel allerdings, Sie stammen nicht von hier.“
„Jetzt werd mal nicht frech, Fräulein.“
„Sie haben beide einen starken Akzent.“
„Das sind alte deutsche Dialekte.“
„Schön“, sagte die Pflegerin. „Da haben Sie ja eine Gemeinsamkeit. Vielleicht kommen Sie doch noch ins Gespräch.“
Frau Meinel drehte den Kopf. „Bevor ich mit der rede, unterhalte ich mich sogar mit dem Personal.“
„Wie mich das freut, euer Hochwohlgeboren“, murmelte die Pflegerin.
„Tatsächlich war meine Mutter von Geburt adelig“, sagte die Meinel. Ihr Gehör war immer noch ausgezeichnet.
„Der Kaffee ist übrigens lau, Fräulein“, sagte die Schneider.
„Oh je, was ist dem widerfahren“, sagte die Pflegerin. „Eben war er doch zu heiß.“
„Das Personal hier ist das letzte“, rief die Meinel.
„Willkommen in unserem gemütlichen Aufenthaltsbereich“, sagte die Heimleiterin. „Hier findet Ihre Mutter sicher Anschluss.“
Dies ist eine ABC-Etüde. Drei Wörter mussten in einen Text von maximal 300 Wörtern eingefügt erden. Die Wörter lauteten Baracke, lau und widerfahren. Gestiftet hat sie diesmal Bernd mit seinem Blog Red Skies Over Paradise.
Christiane vom Blog „Irgendwas ist immer“ stellt alle zwei Wochen eine neue Schreibaufgabe: Sie präsentiert eine Wortspende, die in einen Text zu integrieren ist, und sammelt die entstandenen ABC-Etüden. Ein vergnügliches Spiel, offen für alle, die Lust darauf haben.
Herzlichen Dank für die Inspiration, Bernd und Christiane!
Myriade sagte:
Schrecklich, die handelnden Personen sind so echt !!
Werner Kastens sagte:
Ich kann mir das auch gut vorstellen.
Bei mir kommt allerdings dazu, dass ich eine Familie Meinel aus unserer Nachbarschaft kenne. Vor der Wende geflüchtet aus der DDR, hier eine Weberei gegründet und die Nase immer sehr hoch getragen. Die Eltern hätten ja früher das gleiche Auto gefahren wie der Himmler, und so weiter, immer die Nase hoch.
Christiane sagte:
Manchmal schlagen die Kommentare alles, was einem dazu selbst einfällt.
Ich kenne solche Leute bestimmt auch, aber ich vermeide es, ihnen zuzuhören, wenn ich nicht muss.
Vielleicht sollte ich, Stoff für Etüden, wie man sieht … 🤔😉
Traurig. Guter Text.
Übrigens bist du viel zu früh, ist alles okay bei dir? 😉
Abendgrüße 😁⛅🍷🥨🧀👍
Nina Bodenlosz sagte:
Ach du lieber Himmel, ich kenne zum Glück im Leben keine Frau Meinel. Aber ähnliche Gestalten sind mir leider schon begegnet 🙂
Vielleicht haben die gehässigen Damen ja tatsächlich ihren Spaß – nur die Pflegerin tut mir leid.
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fundevogelnest sagte:
Grauenhafte Vorstellung, wenn man nicht mehr kann, mit solch Feundlichen ein Zimmer teilen zu müssen.
Nina Bodenlosz sagte:
Ja. Oder man ist selbst ein Biest …
fundevogelnest sagte:
Das finden dann aber immer nur die anderen