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Foto: Susanne Fern

Im besten Netzwerk der Welt, dem Texttreff, wird auch in diesem Jahr bloggewichtelt.
Heute besucht Heike Baller das Bodenlosz-Archiv zum zweiten Mal (zuletzt 2014) und spendiert eine Geschichte.
Heike Baller liest und liest und liest vor – und was sie liest, teilt sie gerne mit anderen unter Kölner Leselust (https://www.koelner-leselust.de).
Was sie vorliest? Vor allem Gedichte. Reinhören möglich in der Hörbar (https://www.koelner-leselust.de/hoerbar2/).


Neu im Institut für Zeitgeschichte

Nee, das ist wieder der falsche Korridor. Wie verwinkelt dieser Anlage doch ist. Wo, um alles in der Welt, hab ich denn nun den Abzweig verpasst? Wahrscheinlich geht es aber irgendwann rechts wieder raus und ich komme auf dem ursprünglichen – ebenfalls falschen – Korridor. Also weiter.

Hier war offensichtlich ein anderer Designer tätig; die Türen haben so einen schimmernden Überzug. Blau? Oder ist da ein Hauch Lila drin? Auf jeden Fall viel viel hübscher als die Korridore mit den kamelfarbenen Wänden und grünen Türen.

Die haben hier die Nummer nicht neben den Türrahmen gepappt, sondern auf die Türen.

Wie lang mag dieser Korridor sein?

Hier steht „1955“, „1956“, „1957“ – Du gute Güte, die werden aber doch nicht bei eins angefangen haben, oder?

Jetzt bin ich schon in den sechzigern und noch immer kein Abzweig. Wie lang muss dieser Korridor sein? Oh, der ist wohl nicht ganz gerade! Ich kann immer nur drei Türen auf einmal sehen. Vielleicht sollte ich doch umkehren.

Da steht ja etwas unter den Nummern. „Bitte klopfen. Eintreten nur nach ausdrücklicher und deutlicher Aufforderung!“ Holla, die Waldfee! Das klingt ja richtig streng.

Ach, guck mal, 1972 – wenn das eine Jahresangabe wäre, wäre es mein Einschulungsjahr.

Langsam bin ich es ja leid, hier lang zu laufen. Ich klopfe jetzt mal und frage, wie ich wieder meine Abteilung komme.

War das jetzt eine „ausdrückliche und deutliche Aufforderung“? War da überhaupt was? Also, irgendwas habe ich gehört. Noch mal klopfen. Sicher ist sicher. Hm, da war was. Außerdem will ich ja auch nur eine kollegiale Auskunft – so als Newbie im Haus.

Oh, holy shit – keine gute Idee! Wo bin ich denn hier gelandet? Und wieso hab ich den Krach nicht von draußen gehört?

Wer schießt denn hier?

Maskierte Männer in einem Hochhaus? Wie kommt hier überhaupt ein Hochhaus rein?!

Wieso „Conny Kramer“? – Nichts wie raus!

Wieso stehen da Willy Brandt und Egon Bahr? Und den Typen mit dem zurückgekämmten Haar? Den hab ich schon mal irgendwo gesehen …

Ich frag den jetzt einfach. „Entschuldigen Sie bitte – können Sie mir sagen wie ich zurück in die Forschungsabteilung …“ Der sieht mich gar nicht! Nimmt er mich gar nicht wahr? „Huhu!“ Auch Winken bringt nichts – keine Reaktion.

Ich versuch‘s jetzt einfach mal … Obwohl – „einfach mal“ mit Willy Brandt reden, der ja nun schon einige Jahre tot ist, trifft‘s ja auch nicht so ganz. Wie spreche ich den denn jetzt richtig an? Einfach nur „Herr Brandt“? Oder doch besser „Herr Altbundeskanzler“? Also los. „Herr Altbundeskanzler Brandt, bitte entschuldigen Sie …“ Auch keine Reaktion. Als wäre ich nicht da.

Ich. Will. Hier. Raus. Und zwar sofort! Wo ist die verdammte Tür?!

Als ich rein kam, habe ich zuerst die Schüsse gehört – die kamen von links. Diese unwirkliche Szene mit den Maskenmännern und dem Hochhaus war schräg rechts vor mir. Wenn ich die Position wieder finde, müsste ich auch die Tür wieder finden. Da, da ist das Hochhaus! So, jetzt sehe ich es rechts schräg vor mir und gehe einfach rückwärts. Dann muss ich ja an der Tür landen.

Inzwischen bezweifle ich ja, dass ich jemandem schmerzhaft auf die Füße treten kann, selbst wenn ich jemandem auf die Füße trete. Keiner scheint mich zu sehen oder zu hören – dann wird mich wohl auch keiner spüren.

Wie weit muss ich denn jetzt noch rückwärts? Das waren eben doch nur einige Schritte. Aber ich kann mit den Händen hinter mir nichts tasten; nur leerer Raum.

„Ich will hier raus!!“

Huch! Was ist das? Da hat mich was berührt. Irgendwas ist in meiner Hand; ich trau mich kaum hinzusehen.

Eine Maus?! Iiih! Wie kommt die in meine Hand?

Will die jetzt etwa losfiepen?

Ich glaub‘s nicht! Die redet …!

Ich hab nichts geraucht!

O. k., o. k. Wenn das der einzige Rat ist, den ich in diesem Albtraum bekommen kann, befolge ich ihn halt. Obwohl – „Augen zu und fünf Schritte rückwärts gehen“ ist jetzt nicht die einfachste Anweisung …

Eins, zwei, drei, vier, fünf. Eine Vierteldrehung links, zwei Schritte vorwärts – eins, zwei – eine Vierteldrehung links, Hand ausstrecken, Klinke finden, Klinke drücken und raus. Puuuh! Geschafft! Erst mal setzen.

„Kannst Du mir bitte …“

––

„Oh, entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Können Sie mir trotzdem bitte erklären, was hier eben los war?“

––

Na, da habe ich mir wohl nen neuen Arbeitsplatz der besonderen Art gesucht. „Gleitzeitkorridor“ – und das in einem historischen Institut. Ob es hier dann tatsächlich die Informationen gibt, um zu einer objektiven Geschichtsschreibung zu gelangen?

Wie auch immer – ich muss dringend in meine Forschungsabteilung zurück.

––

„Äääähm – und Sie meinen, mit dem Fahrrad könnte ich jetzt hier echt fahren?“ Also anfassen lässt es sich. Hochheben lässt es sich auch. Und wenn ich mich stark darauf stütze, bricht es nicht zusammen. Einen Versuch ist es wert und wenn Frau Doktor Schmitz so nett ist, sich in den Fahrradkorb zu setzen und mir Anweisungen zu geben, wie ich zu fahren habe – dann tue ich das jetzt.

„Soll ich Sie in den Korb setzen, Frau Doktor Schmitz?“