Schlagwörter
ABC-Etüde, Buch, Lesezeichen, Worte, Wut
Sie wollte sich schützend zusammenrollen, doch ihre Fasern gehorchten nicht. Sie war eine Ansammlung mürber Fragmente.
Über die Jahre war sie mit den Seiten verschmolzen. Das Murmeln der Worte umfing sie. Sie war gefangen in einer Zauberformel von über sechshundert Seiten.
Die Worte wollten Gehör. Das war ihr Daseinszweck: gesehen werden, verschlungen werden. Aber niemand schlug die Seiten um. Sie lagen im Dunkeln und waren vergessen. Sie hungerten nach Beachtung. Sie murrten. Sie verfluchten die da draußen.
Sie hatte sich eingemischt. Ihre Natur war es, zu ordnen. Sie beschwichtigte, gab zu bedenken, warb um Verständnis. Doch die Wut der Worte brauste lauter und lauter. Sie verlor ihre Kraft. Ihre Haut wurde rau. Ihre Spannung versiegte. Müde gab sie sich dem Toben der Worte hin und widersprach nicht mehr. Sie war altersschwach. Sie legte sich zur Ruhe, ließ sich umhüllen vom Rauschen und Raunen.
Nun das Licht. Hatten die Worte das Buch gesprengt?
Grobe Hände rissen die Seiten herum.
„Guck mal, das alte Lesezeichen!“
Gleich würden die Finger sie zerquetschen.
Die Worte drängten an ihr vorbei ins Freie. Sie hüpften, sprangen, stürzten der Welt entgegen. Sie prasselten auf den Leser ein. Sie entluden ihren Hass. Ein Schrei. Das Buch fiel.
Ist das die Freiheit?, dachte sie und zerstob.
Eine ABC-Etüde zu den Wörtern: Lesezeichen, altersschwach und hüpfen. Diese drei Wörter sollten in einem Text von maximal 300 Wörtern Verwendung finden. Der „Einsendeschluss“ war gestern, aber so ist das eben manchmal …
Die Wörter gespendet hat Sabine. Ihr Blog heißt wortgeflumselkritzelkram.
Christiane vom Blog „Irgendwas ist immer“ schlägt alle zwei Wochen neue Wörter vor und sammelt die entstandenen ABC-Etüden. Ein vergnügliches Spiel, offen für alle die etüdisieren möchten.
Vielen Dank für die Inspiration an Christiane und die Wortschenkerin!
Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 10.11.19 | Wortspende aus dem Fundevogelnest | Irgendwas ist immer
Christiane sagte:
Wow! Ich spüre die Worte förmlich auf mich einprasseln und sehe das alte Lesezeichen vergehen … Immer wieder faszinierend, der Gedanke, dass das Geschehen in Büchern eine Eigendynamik entwickelt, bzw. die Bücher selbst zu Persönlichkeiten werden oder Persönlichkeitsmerkmale annehmen …
Liebe Grüße
Christiane
Nina Bodenlosz sagte:
Da wird der Blick aufs Bücherregal ein ganz anderer 🙂
Liebe Grüße
Nina
Christiane sagte:
Ich erinnere mich gerade an dieses beißenden Buch bei Harry Potter 😉
Nina Bodenlosz sagte:
Oh ja. Besser Finger weg!
Werner Kastens sagte:
Rebellion der Buchstaben gegen eine Einordnung. Tolles Bild!
Nina Bodenlosz sagte:
Danke! Viele Grüße!
Nicole Vergin sagte:
Dein Text bestätigt mich in dem was mir schon immer wichtig war: Bücher mit Sorgfalt behandeln und nicht vereinsamen lassen!
Liebe Grüße
Nicole