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„Du bist schuld!“, sagt eine Stimme. Schon bin ich enttarnt. Jederzeit kann ich beschuldigt werden. Ich misstraue mir. Irgendwo in mir verbirgt sich die Schuld. Grundsätzlich.
Sollte ich mir in einem konkreten Fall keiner Schuld bewusst sein, bleibt ein Zweifel bestehen. Mein Widerspruch ist zaghaft. Wer weiß, ob ich nicht doch – und sei es noch so indirekt – zumindest mitschuldig bin? Ein Wort oder eine Handlung von mir könnte das Unheil ausgelöst haben, über Bande und ohne mein Wissen. Ich versuche mich zu verteidigen, aber im Innersten bin ich überzeugt von meiner Schuld.
Verantwortung klingt weniger aufgeladen als Schuld. Verantwortung kann man tragen und übernehmen. Man kann sich aktiv mit ihr auseinandersetzen. Schuld kann man nur sein.
Ich kann mich an Chefs erinnern, die den Gang hinauf und hinab stapften und immer wieder fragten: „Wer ist schuld?“
Wütend klang das, aber ich hörte auch eine gewisse Lust heraus. Jemand hatte sich schuldig gemacht und würde bestraft werden. Auf den Scheiterhaufen!
Die Frage „Was tun wir jetzt?“ wäre wohl zielführender gewesen. So wie später die Frage: „Wie vermeiden wir dieses Problem in Zukunft?“
Zelebriert wurden Schuld und Sühne.
In meiner Kindheit schwebte die Schuld über mir wie eine schwarze Wolke, aus der sich jederzeit ein Blitz lösen konnte. Ich schaute nicht hin.
Ich wollte ein gutes Kind sein. Oft gelang es mir nicht, die Erwachsenen zufriedenzustellen. Der Blitz schlug ein. Ich fühlte mich schlecht und schmutzig. Ich wusste nicht, wie ich mich je wieder aus diesem Zustand befreien sollte.
Es war nicht relevant, wie groß das Unheil war, das ich angerichtet hatte. Ob ich etwas zerbrochen, widersprochen, beim Klavierüben zu viele Fehler gemacht hatte – all das war Ausdruck der grenzenlosen Schuld in meinem Inneren.
Ich versuchte, der Schuld zu entkommen. Morgens hatte ich die besten Vorsätze. Sonntags nach dem Gottesdienst bemühte ich mich um einen Neustart als gutes Kind. Doch jedes Mal bröckelte die Fassade nach kurzer Zeit. Ich machte Fehler. Ich fiel zur Last. Ich sagte das Falsche. Ich war ungeschickt. Manchmal war ich übermütig und aufbrausend. Ich schämte mich dafür, aber davon wurde ich kein besserer Mensch.
Ich hatte das Gefühl, meine Eltern befürchteten das Schlimmste. Sie blickten mich an und ahnten, dass in mir ein Dämon wohnte, der alles in Schutt und Asche legen würde, wenn er nicht daran gehindert wurde. Und meine Moral war schwach. Meine Eltern erkannten in gutem Benehmen und Leistungen eine Täuschung. Wenn mich andere lobten, wussten sie, es war nicht verdient.
Ich bin schon lange kein Kind mehr. Ich glaube nicht mehr, dass ich böse bin. Doch bleibt der Zweifel. Manchmal erwache ich und fühle eine schwere Schuld. Als hätte ich ein furchtbares Verbrechen begangen, an das ich mich nicht erinnern kann. Nur diese bleierne Schuld drückt mich nieder.
Vielleicht ist das die Schuld, die mir meine Eltern übergeben haben. Das Entsetzliche, das sie im Krieg erlebt, gesehen oder auch getan hatten, das unaussprechlich war und unauslöschlich, nistete in ihrem Inneren. Sie fürchteten es. Sie bemühten sich, es mit ihrem Glauben zu bändigen. Aber sie hatten erlebt, dass Kultur und Moral brüchig waren. Sie würden keinen Schutz bieten, wenn das Böse erwachte.
Sie mochten sich fragen, ob sie das Böse mit mir vielleicht erneut in die Welt gesetzt hatten. Ihre Schuld mochte in mir weiterleben über ihren Tod hinaus. Und so schauten sie mich misstrauisch an und suchten nach dem Zeichen des Bösen.
Ich fühle mich schuldig, weil ich diesen Text schreibe. Ich benenne Gefühle, die nicht ausgesprochen werden sollten. Ich fürchte, dafür bestraft zu werden. Vielleicht wünsche ich mir auch eine Strafe, die mich in meine Grenzen weist. Nicht von meinen Eltern, die nicht mehr leben, sondern von einer höheren Gerechtigkeit. Oder von mir selbst. Stellvertretend.
Neulich las ich, man solle sich Gutes tun, wenn man sich aus einer Freundschaft oder Beziehung gelöst habe.
Meinem Verstand leuchtete das ein. Traurigkeit und Verlust dürfen gelindert werden, auch wenn man selbst eine Trennung vollzogen hat.
Mein Gefühl sagte etwas anderes. Wenn ich einem anderen Menschen etwas versagte, müsse ich bestraft werden. Es sei böse und egoistisch, Grenzen zu setzen und für mich selbst zu sorgen. Ein gutes Kind füge anderen keine Schmerzen zu.
Da ist sie wieder, die Schuld. Sie fordert eine schwere Strafe für selbstsüchtige Veränderung. Aber ich werde versuchen, ihr in Zukunft mit Güte und Sanftmut zu begegnen.
Ich danke Ingrid Meyer-Legrand für die Anregung, über Schuld zu reflektieren. Sie lädt wöchentlich zu einem Live-Call #Kriegsenkel ein, bei dem jeweils ein Thema beleuchtet wird. Es ist erstaunlich, was die Impulse bei mir als Teilnehmerin zum Klingen bringen.
Sabine sagte:
Danke dafür. Vieles von dem, was du schreibst, löst bei mir ein Wiedererkennen aus. Ich glaube, ich muss darüber auch mal ein bisschen länger nachdenken.
Nina Bodenlosz sagte:
Danke für das Feedback. Ich muss auch noch weiter darüber nachdenken. Das Thema berührt vieles, was mich beschäftigt.
Heike Baller sagte:
Same here – und es ist erst mall egal, wie aalt ich bin und wie lange Eltern und Großeltern tot sind …
Leider ist bei mir der Mittwochabend idR „weg“ bzw. ich bin unterwegs, zumindest in der Vorlesungszeit. Wenn ich es schaffe, schau ich da aber gern mal rein. Danke für den Tipp.
Nina Bodenlosz sagte:
Ich fürchte, das ist eine Aufgabe für mehrere Generationen 🙂 Aber andererseits kann die Auseinandersetzung mit diesen Themen auch stark machen. Das kann dann die Stärke der Kriegsenkel*innen sein. Vielen Dank und viele Grüße!
fundevogelnest sagte:
Auch ich erkenne mich wieder.
Danke
Natalie