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Ich schreibe und zeichne nicht nur, ich lese auch gern. Und manchmal entdecke ich ein Buch, dem ich viele Leserinnen und Leser wünsche. So eines ist „Die Wüstengängerin“ von Alice Grünfelder. Das Buch hat mich in eine ferne Welt entführt und zum Nachdenken gebracht. Und deswegen möchte ich es hier vorstellen.
„Die Wüstengängerin“ nimmt einen mit in den westlichsten Teil Chinas. Xinjiang erscheint als unwirtlicher Ort. Es ist heiß, es ist dürr, überall liegen Sand und Staub.
Vor langer Zeit begegneten sich hier Menschen aus vielen Ländern auf der Seidenstraße. Buddhisten hinterließen Wandmalereien in den Berghöhlen, die inzwischen auf Touristentouren präsentiert werden. Doch sehr viel mehr sollen Reisende nicht mitbekommen von der Region. Die politische Lage ist undurchsichtig. Teile der einheimischen Bevölkerung, heute zumeist muslimischen Glaubens, kämpfen um ihre Unabhängigkeit. Die chinesische Regierung versucht dagegen mit aller Macht der Region eine chinesische Identität überzustülpen. Sogar die Uhren zeigen Pekinger Zeit, obwohl das der Tageszeit vor Ort in keiner Weise entspricht.
Autonomiebestrebungen werden unterdrückt. Menschen aus anderen Teilen Chinas wurden gezwungen, sich in Xinjiang anzusiedeln. Sie blieben oft nicht freiwillig, aber auch ihren Kindern gelingt es kaum, wieder in einen anderen Teil Chinas zurückzukehren.
Die Einheimischen haben zum Teil ihre Häuser verloren, ihre Dörfer, ihre Lebensgrundlagen. Manche Menschen leben in halb verfallenen Dörfern, die von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten sind. Durchreisende aus den angrenzenden Ländern fahren durchs Land. Sind sie gewöhnliche Händler, wollen sie einen radikalen Islam verbreiten oder handeln sie mit Drogen? Verschiedene Fraktionen, Gruppen und Einzelpersonen kämpfen gegeneinander, legen sich gegenseitig lahm oder versuchen einfach nur, zu überleben. Drastische Strafaktionen und Polizeigewalt bringen die Situation nicht unter Kontrolle, sie heizen die Gewalt nur noch an.
Die beiden Protagonistinnen wollen in diesem Chaos ihren Weg finden.
Die Studentin Roxana sucht in den neunziger Jahren auf eigene Faust nach buddhistischen Höhlenbildern. Zwar ist war bekannt, dass solche Bilder existieren, und einige sind sogar Touristen zugänglich, doch die Behörde sehen nicht gerne, wenn nach weiteren Bildern und Höhlen gesucht wird. Roxana lässt sich davon nicht abhalten. Sie will die buddhistische Vergangenheit der Region an den Tag bringen. Dazu wagt sie sich alleine in abgelegene Dörfer. Irgendwann verliert sich Roxanas Spur in der „Wüste ohne Rückkehr“.
Linda kommt zwanzig Jahre später ins Land. Sie soll ein internationales Hilfsprojekt organisieren. Obwohl sie viel erfahrener ist als Roxana und in offizieller Mission reist, stagniert ihr Vorhaben alsbald. Das Projekt scheint nicht zu existieren, die Behörden verweigern die Zusammenarbeit, ihr Kollege torpediert das Projekt zudem durch seine undiplomatische Vorgehensweise. Linda ist zum sinnlosen Warten gezwungen. In dieser Situation findet sie Roxanas Tagebuch. Während ihr eigentliches Projekt versandet, macht Linda Roxanas Schicksal zu ihrer Mission: Sie will herausfinden, was mit Roxana geschehen ist, und begibt sich auf gefährliche Alleingänge.
Die Geschichten der beiden Protagonistinnen könnten symbolisch für die Lage in Xinjiang stehen. Es gibt keine klare Sicht, Ziele verschwimmen, Hindernisse legen sich in den Weg, Dinge geraten außer Kontrolle. Sogar die Wüste, der Sand, die Hitze selbst scheinen jedes Vorhaben zum Scheitern zu verurteilen.
Alice Grünfelders Roman hat mich beeindruckt. Ich glaubte, die Hitze der Wüste beim Lesen zu spüren. Die Erschöpfung der Hauptfiguren und ihre verzweifelte Suche packten mich. Beide Frauen verfolgen mit Hartnäckigkeit eine Spur, doch vielleicht ist es nicht das Ziel, sondern die Suche selbst, die ihrem Leben einen Sinn verleiht und die Kraft, nicht aufzugeben.
Einige Menschen, die den Protagonistinnen auf ihren Reisen begegnen, erzählen ihre Geschichte. Ob sie der Wahrheit entspricht, lässt sich nicht feststellen. Vieles scheint erfunden, vieles bleibt verborgen und rätselhaft. Jenseits der Frage nach der Wahrheit zeigt sich jedoch eine Vielschichtigkeit, die unter dem Deckmantel der offiziellen chinesischen Ordnung existiert. Unzählige Geschichten sind unter dem Sand verborgen. Die unerforschten buddhistischen Höhlenbilder könnten eine Metapher dafür sein.
Die Protagonistinnen schrieben sich ein Stück weit in diese Geschichten ein. Roxanas Spur verliert sich in Xinjiang. Doch vielleicht wollte sie mit diesem Stück Erde auch verschmelzen. Linda will Roxanas Geschichte zu Ende erzählen. Dass ihr das nicht wirklich gelingt, muss ebenfalls kein Scheitern bedeuten.
Vielleicht erzählt dieser Roman davon, dass es nicht immer darum geht, ein Ziel zu erreichen. Der eigentliche Weg kann darin bestehen, vom Kurs abzutreiben.
Alice Grünfelders Roman ist sprachlich sehr dicht und entführt einen in eine fremde Welt. Mich hat „Die Wüstengängerin“ zum Nachdenken gebracht. Die Geschichten der beiden Protagonistinnen haben mich berührt. Ich fragte mich nach der Lektüre, wohin mein Weg mich führt. Und ob mitunter nicht das Abkommen vom Weg mich meinen Zielen näher bringt als alle Zielstrebigkeit.
Ich kann die „Die Wüstengängerin“ allen empfehlen, die sich auf eine Expedition einlassen wollen, bei der sich existenzielle Fragen auftun. Für mich war die Lektüre ein Gewinn.
Andrea sagte:
Das klingt sehr spannend, danke für den Tipp.