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Eine Geschichte setzt sich fort.
Hier geht es zu Teil 1.
Ich behielt sie die Woche über im Blick. Sie tat, als ob sie mich nicht bemerkte, doch ihre Stimme befahl mir, ihr zu folgen. „Follow me! Follow me!“ Der Ruf begleitete mich rund um die Uhr.
Heute ging ich wieder in den Yogakurs, um sie zu treffen. Eigentlich hätte ich jetzt, beim zweiten Mal, eine Zehnerkarte kaufen müssen, aber ich konnte mich herauslavieren. Ich müsse noch einmal versuchen, ob der Kurs für mich geeignet sei. Ich sei mir nicht ganz sicher.
„War irgendetwas nach der letzten Stunde nicht in Ordnung?“, fragte die Lehrerin und ließ besorgt den Blick an meinem Körper nach unten und wieder herauf schweifen.
„Nein, nein“, sagte ich. „Mir geht es gut.“
Sie blickte mich ungläubig an.
„Keine besonderen Probleme“, setzte ich hinzu.
„Keine Nachwirkungen?“
„Nein“, sagte ich.
Sie sah enttäuscht aus. Das war die falsche Antwort gewesen.
„Nichts, was mich beeinträchtigt hätte“, sagte ich.
Allein, das war gelogen. Die Stimme, die ich mir in ihrem Kurs eingefangen hatte, stellte durchaus eine Beeinträchtigung dar. Jetzt musste ich jede freie Minute darauf verwenden, der Yogafrau zu folgen. Meine Work-Life-Balance war zerstört.
„Wenn du regelmäßig kommst, wirst du feststellen, dass sich dein Alltag verändert“, sagte die Yogafrau.
Dazu musste ich nicht regelmäßig kommen.
Die Lehrerin sah mich sorgenvoll an. Wahrscheinlich erkannte sie schreckliche Vorboten zukünftiger Erkrankungen. Oder einfach einen Geist, der auf der falschen Bahn war.
„Öffne dich für neue Erfahrungen“, sagte sie mit Nachdruck. „Es wird dein Leben bereichern.“
Sie lächelte sanftmütig und nickte. Was in mir sofort inneren Widerstand auflodern ließ. Aber ich lächelte zurück und ging mit meiner Matte in die hinterste Ecke.
Die Yogafrau war noch nicht eingetroffen. Was, wenn sie nicht kommen würde? Dann wäre ich umsonst hier und müsste die ganze Stunde durchleiden. Ich würde das Gesicht verlieren, wenn ich aus dem Raum ging. (Welches Gesicht?) Ich würde die Konzentration durchbrechen. Ich fürchtete die eisigen Blicke der sanften Gestalten.
Schon vor Beginn der Stunde lagen zwei Frauen auf dem Rücken und zogen ihre Glieder in die Länge. Sie konnten gar nicht genug davon kriegen. Ich streckte mich lang aus und schloss die Augen.
Die Stimme in meinem Kopf war heute ziemlich leise. Ab und zu meldete sie sich, damit ich nicht glaubte, sie hätte mich verlassen. Aber zwischendrin ließ sie mich allein.
„Bitte kommt nun in eine aufrechte Sitzposition“, begann die Lehrerin die Stunde.
Ich rappelte mich hoch. Der Raum war inzwischen gut gefüllt. Die Yogafrau war nicht dabei. Ich musste nicht suchen, ich hätte sie sofort bemerkt.
Wir saßen und atmeten. Draußen fuhr die obligatorische Polizeistreife mit Martinshorn vorbei. Es quietschte. 12 Augenpaare klappten auf und schauten der Yogafrau entgegen, die versuchte, mit der Yogamatte unter dem Arm lautlos den Raum zu durchqueren. Sie schlich zu der freien Stelle neben mir. Bei jedem Schritt knarzte eine Diele. So zierlich die Yogafrau war, der Raum ließ sie nicht unbemerkt passieren.
Sie breitete die Matte aus und ließ sich nieder.
„Folge mir! Folge mir!“, sirrte ihre Stimme in meinem Kopf.
Ich beobachtete sie aus dem Augenwinkel, soweit die folgenden Verrenkungen das zuließen.
Am Ende der Stunde durften wir uns der Entspannung hingeben. Mein unterer Rücken schmerzte. Nie tat mir der Rücken weh, außer wenn ich moderne Kunst betrachtete oder es mit Yoga versuchte. Ein Phänomen, das ich mir nicht erklären konnte. Ich ruckelte verstohlen hin und her und atmete in den Schmerz. Den Schmerz wegatmen. Bislang war es mir in diesem Leben nicht gelungen, aber sag niemals nie.
Die Stimme nutzte die Situation, um verrückt zu spielen. Sie kreischte hinter meiner Stirn.
Ihre Besitzerin lag scheinbar unschuldig neben mir. Ein Bild der Versenkung. Ihre Wimpern ruhten zart auf den Wangen. Sie schien meinen Blick bemerkt zu haben, denn ihr linkes Lid hob sich ein wenig an, um einen Blick hindurchzulassen. Einen Blick, der alles andere als freundlich war.
Ich schloss die Augen. Ich spürte, dass die Yogafrau ihre Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hatte. Die Stimme tirilierte. Ich zählte die Sekunden und blieb ruhig liegen. Meine Sinne waren auf die Frau auf der Matte neben mir gerichtet. Die Härchen an meinem rechten Arm hatten sich aufgestellt wie Fühler.
Endlich holte uns die Yogalehrerin aus der Entspannung. Wir sangen ein Mantra. Ich tat natürlich nur so, aber meine Nachbarin ließ die Töne voller Inbrunst aus ihrer Kehle dringen. Das schrille Duett ihrer äußeren und inneren Stimme machte mir Kopfschmerzen.
Es war vorbei. Wir verabschiedeten uns. Ich rollte meine Matte zusammen.
„Hast du ein Problem?“, sagte die Yogafrau zu mir.
„Nein, nein, warum“, gab ich zurück.
Sie stutzte.
„Tschüss, einen schönen Abend“, sagte ich und stand auf.
„Diese Stimme“, sagte die Yogafrau.
„Was?“
„Deine Stimme“, sagte sie.
„Was ist damit?“
„Was soll das?“
„Was?“
„Was willst du von mir?“
„Ich?“
„Natürlich du. Ich höre deine Stimme seit einer Woche. Unentwegt. ‚Folge mir, folge mir!‘ Ich habe meditiert, um deine Stimme loszuwerden, ich habe Globuli geschluckt, Bachblüten, Schüssler Salze, ich habe irgendwann angefangen, Schokolade zu essen und Wein zu trinken, nur damit diese verdammte Stimme in meinem Kopf ruhig ist. Ich habe seit drei Jahren keinen Zucker und keinen Alkohol zu mir genommen und jetzt ist mein Regime gescheitert. Ich habe jede Kontrolle verloren. Bald werde ich anfangen, Fleisch zu essen, bloß weil du mich nicht in Ruhe lässt.“
„Kann ich euch helfen?“, sagte die Lehrerin, die zu uns getreten war. Sie legte der Yogafrau beruhigend die Hand auf die Schulter. Die schüttelte sie ab und zeigte mit zitterndem Finger auf mich.
Reichlich melodramatisch sah sie aus, diese Geste.
„Ja, hilf mir. Diese Frau ist letzte Woche hierhergekommen, um mich zu verfolgen!“
Ich schüttelte den Kopf. „Das stimmt nicht. Andersherum. Sie ist es, die mich nicht in Frieden …“
„Aber ich habe sie gesehen“, unterbrach die Yogafrau. „Jetzt ist mir alles klar. Ich habe sie eben erst erkannt. Sie war an den Mülltonnen, sie war an der Bushaltestelle, sie ist mir sogar beim Joggen durch den Park gefolgt. Sie ist eine Irre. Wie kann so etwas geschehen!“ Sie schaute die Jogalehrerin an. „Tu etwas. Das ist dein Kurs! Ich habe dir vertraut.“
Die Yogalehrerin richtete ihre klaren Augen forschend auf mich.
„Das stimmt nicht“, sagte ich.
„Ich habe sie gesehen“, rief die Yogafrau.
„Es war ganz anders“, sagte ich. „Ich wollte nur …“
„Sie hat mich verfolgt. Sie hat ihre Stimme in meinem Kopf festgekrallt und pausenlos geschrien, dass ich ihr folgen soll. Ich hatte keine Ahnung, was das für eine Stimme war. Menschen mit solchen Stimmen kenne ich nicht. Will ich nicht kennen. Aber die Worte dröhnten durch meinen Kopf. Die ganze Woche lang. Folge mir! Folge mir! Ich bin von ihr besessen. Sie soll damit aufhören. Was will sie von mir? Warum ist sie hier aufgetaucht? Ich sehe doch, dass sie kein Yoga mag. Beim herabschauenden Hund hat sie so finster geschaut, ich hatte Schwierigkeiten, bei mir zu bleiben. Sie lauert mir auf, sie legt ihre Matte direkt neben mich.“ Die Yogafrau schrie jetzt. „Sie soll weggehen. Sag ihr, sie soll mich in Ruhe lassen!“
Die Lehrerin legte ihr wieder die Hand auf die Schultern. Die Yogafrau schüttelte sie diesmal nicht ab.
„Entschuldige“, sagte die Lehrerin zu mir. „Vielleicht lässt du uns lieber alleine. Ich melde mich bei dir. Vielleicht kannst du in eine andere Gruppe wechseln. Ich hatte solche Probleme noch nie … Ich weiß nicht, was …“
„Geh weg, geh weg“, schrie die Yogafrau. Die Tränen liefen über ihr Gesicht.
Und ich ging.
Ich fühlte mich schuldig. Ich war die Neue. Ich musste die Störung verursacht haben.
„Follow me“, flötete die Stimme der Yogafrau in meinem Kopf.
„Ruhig“, zischte ich.
Die Umkleide war leer, bis ein Mann hereinkam und sich splitternackt auszog. Er stand lange da, kramte in seiner Tasche und kratzte sich mit der anderen Hand an der Hüfte. Der Boden zu unseren Füßen war mit einem dunklen Teppich zweifelhafter Sauberkeit bedeckt. Warum es mir unangemessen erschien, mit dem nackten Mann auf diesem Teppichboden zu stehen, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, dass es so war. Ein Parkettboden hätte mir weniger ausgemacht. Sogar Laminat wäre in Ordnung gewesen. Ich beeilte mich, meine Kleider anzuziehen, sagte leise „Tschüss“ und ging in den Flur hinaus. Als ich die Tür hinter mir schloss, hatte der nackte Mann ein T-Shirt übergezogen. Aber nur das.
Aus dem Yogaraum war Schluchzen zu hören. Ich schaute durch die Türöffnung. Die Lehrerin hielt die Yogafrau fest umarmt. Sie schaute mich über deren Schulter an und schüttelte den Kopf.
Ich ging zu Fuß nach Hause. Es regnete. Ich beschloss, einen Umweg durch den Park zu machen. Wasser sickerte durch meine Jacke, Tropfen hafteten sich an meine Brillengläser. Über den Bäumen war ein Regenbogen.
„Follow me! Follow me“, sagte die Stimme.
Vielleicht wird sie irgendwann resignieren.
Und hoffentlich wird meine Stimme das ebenfalls tun. Bevor die Yogafrau durchdreht und mich findet. Wenn sie kurz davor steht, Fleisch zu essen, könnte sie jede Grenze überschreiten.
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