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Croissant; Grafik: K. PollnerDer Kollege hat eine andere Stelle gefunden und verabschiedet sich. Das kam plötzlich; wir bedauern es. Der Kollege hat Kuchen mitgebracht. Und so sitzen wir im Kreis, kauen und fragen, was es denn auf sich hat mit der Veränderung.

„Ich will weg“, sagt der Kollege.

Von uns?

„Von all dem hier.“

Ich kenne dieses Gefühl: hinschmeißen und neu anfangen. Ich bin dann doch geblieben, der Kollege scheint mutiger.

„Du ziehst aufs Land?“, fragte ich.

„Hauptsache weg“, gibt er zurück.

„Mal ganz anders leben“, sagt eine Kollegin. „Das reizt mich auch. Die Großstadt strengt an.“

„Der ganze Scheiß“, sagt der Kollege. „Es wird immer schlimmer. Ich warte nicht, bis alles zusammenbricht.“

„Was ist denn los?“, frage ich. Ich dachte eigentlich, dem Kollegen ginge es soweit ganz gut: innige Kleinfamilie, Innenstadtwohnung, interessanter Job.

Er schaut mich entsetzt an. „Fragst du das im Ernst?“

Wahrscheinlich hat der Flurfunk es längst verbreitet: der Kollege ist krank, seine Kinder haben Pseudo-Krupp oder seine Frau liebt ihn nicht mehr. Nur ich weiß von nichts. Die anderen springen nicht ein. Und ich will in kein Fettnäpfchen treten. Ich habe es schon einmal erlebt, bei einem unverfänglichen Abteilungstreffen: Ein falsches Wort und der Damm war gebrochen. Ein Kollege warf in den Raum, seine Frau wünsche die Scheidung, ein anderer, seinem Freund würde heute das zweite Bein abgenommen. Ich kannte diese Leute nicht wirklich und fühlte mich überrollt. Das will ich nicht wieder riskieren.

„Tja“, sage ich lahm, „das Leben in Berlin kann schon nerven. Vielleicht keine schlechte Idee, da auszusteigen.“

„Aussteigen?“, sagt er. Offensichtlich habe ich schon das Falsche gesagt. „Ich würde sagen, die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Ihr merkt nichts.“

„Was zum Beispiel?“, frage ich und bereue es.

„Das soll wohl ein Scherz sein“, sagt er.

Die anderen schweigen oder machen beruhigende Geräusche. Wir kauen auf dem Kuchen. Die Henkersmahlzeit, die er uns serviert, denke ich, bevor er uns zurücklässt und sich rettet.

Ich möchte das Gespräch dringend in andere Bahnen lenken, aber der Kollege hat seinen Einsatz gefunden. „Alleine schon …“ beginnt er. Und dann bricht es aus ihm hervor: Das Bezirksamt, der Dreck auf den Straßen, zu viele Kinder für zu wenige, schlecht ausgestattete Schulen.

Soweit kann ich den Ärger nachvollziehen. Ich überlege, die Stimmung mit einem gekonnten Witz über den Berliner Flughafen herumzureißen, aber schon ist der Kollege in seiner Rede weitergestürzt.

Es sind nicht zu viele Kinder, es sind die falschen Kinder, die die Schulplätze besetzen. Die alles überrennen, überfüllen, überziehen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich dunkelhaarige Kinder auf Klettergerüsten sitzen wie Vogelschwärme und darauf warten, den anderen, wem auch immer, die Augen auszuhacken. Die Vögel 2017. Und dabei, so der Kollege, werden die dunklen Horden vom Staat noch dabei unterstützt, uns auszusaugen. Sie werden von allen Seiten in unser Land geholt, hochgepäppelt, beschult, verpflegt, untergebracht auf unsere Kosten. Denn wir – ich weiß nicht genau, wer wir ist, und ich glaube nicht, dass ich dazugehöre –, wir werden liegengelassen, ausgenommen, weggeschoben. Obwohl wir die Wähler sind, das Volk und die Mehrheit!

„Macht nur so weiter“, ruft der Kollege jetzt. „Ihr seid wie Schafe, die zur Schlachtbank laufen.“

Ich verstehe: Ich gehöre nicht zum Wir, sondern zum Ihr.

„Ich kann nachvollziehen, dass du dich über die Schulverwaltung ärgerst“, sage ich freundlich, „aber ich glaube, deine Analyse der gesellschaftlichen Lage ist ein wenig düster geraten. Vielleicht brauchst du Abstand. Vielleicht bist du mit dieser Stadt einfach durch. Ich wünsche dir bessere Zeiten und viel Glück auf dem Land.“

„Glück“, schnaubt er. „Glück, das wird uns nichts mehr helfen, weil ihr immer noch die Augen zumacht und uns sehenden Auges untergehen lasst“ – sind die Augen nun offen oder zu, denke ich verwirrt – „und nichts dagegen tut. Man darf nicht einmal warnen. Bald ist Bürgerkrieg und dann werdet ihr euch umschauen, wenn sie uns alles wegnehmen und sich ausbreiten und ihr euch nicht mehr frei bewegen könnt. Gerade ihr Frauen, was seid ihr naiv, merkt ihr nicht, dass sie euch längst umzingelt haben. Von Tag zu Tag steigt die Kriminalität. Mord und Totschlag auf den Straßen“ – aber die Statistik sagt doch etwas anderes, will ich einwerfen, nur ich komme nicht dazwischen und überhaupt würde er nur entgegnen, es sei naiv, Statistiken zu vertrauen, denn die seien gefälscht, das wisse er genau, das wisse jeder genau, der es wissen wolle, auch wenn er mir nicht sagen könne woher – „denn ihr nehmt die Mörder mit offenen Armen in Empfang und wendet euch gegen die wenigen, die den Mut haben, die Wahrheit zu sagen. Das ist die Dekadenz einer korrupten, versumpften Gesellschaft, die nicht überleben will, sich nicht wehrt und ihre Vernichter noch willkommen heißt und Teddybären wirft …“

Ich versuche, nicht mehr zuzuhören. Ich verstehe ihn auch nicht mehr so gut, weil seine Stimme immer heiserer wird und sich die Worte in seinem Mund überschlagen. Aber seine Augen glänzen. Ich habe ihn noch nie mit so frischem Teint gesehen. Während seine Worte mich bleiern niederdrücken, scheinen sie ihm Energie zu geben. Wie eine gut geölte Dampflok rattert er eifrig in seine Untergangsphantasie hinein. Er sagt, er sei wütend und verzweifelt, aber auf mich macht er einen recht aufgekratzten Eindruck.

Wir und ihr und die, so läuft die Rede weiter und weiter. Es stört ihn nicht, dass keiner widerspricht. Er malt den Untergang aus, einen großen Kessel, in dem alles Elend der Welt zu einer Giftbrühe zusammengerührt wird, die brodelt und über den Rand steigt und uns alle verschlingt. Ich sehe die apokalyptischen Reiter vor mir. Was war das noch? Krieg, Hunger, Krankheit und Tod? Für den Kollegen sind die Rollen etwas anders verteilt, was macht das aus. Sie reiten auf uns zu, sie schwingen Halbmonde und Krummsäbel, sie tragen Turbane. Ich weiß auch nicht, warum ich in meiner Imagination immer ins Mittelalter gerate. Die Türken vor Wien, denke ich, das Croissant als kulinarische Überlieferung, eigentlich hätte ich da jetzt Appetit darauf, der Kuchen schmeckt mir nicht so gut. Ich rufe mich zur Ordnung. Die Tirade des Kollegen hat etwas Hypnotisches. Sie ruft in mir kraftvolle Bilder auf. Geht ihm das genauso und deswegen genießt er sie?

Der Weltuntergang steht vor der Tür. Ausgegangen waren wir von der Inkompetenz der Berliner Verwaltung, nun scheint diese maßgeblich an der Apokalypse beteiligt. Das hätte ich ihr rein organisatorisch nicht zugetraut.

Und der Kollege ist ein Mahner in der Wüste, wer hätte das gedacht. Er wird Zeuge der großen Katastrophe sein. Sein Leben wird nicht in einer kleinen persönlichen Frustration enden oder in einer unspektakulären Zufriedenheit. Nein, er wird in einem grandiosen Spektakel untergehen. Ist das nicht besser als das echte Leben mit Mieterhöhungen, Blasen an den Füßen und verpassten Straßenbahnen?

Ich bin zu nüchtern, um mit ihm mitzugehen. Ich breche die Bilder von Menschenflut, Weltenbrand und Unterhöhlung mit kritischem Verstand und störrischem Humanismus. Aber diese Bilder sind stark.

Im Film kommen Kriege und Katastrophen besser zur Geltung als langes Gerede. Wenn es knallt, zischt und explodiert, werden Männer zu Helden (manchmal auch eine Frau). Energie entlädt sich, Gewalt ist alternativlos. Nach der Katharsis ist klar, wer auf der richtigen Seite steht (oder stand). Im echten Leben sieht das anders aus. Eine Brandschutzverordnung mag nicht sexy sein, aber sie rettet mehr Menschenleben als die Feuerwehr.

Endzeitszenarien mögen uns faszinieren, sie laden auch unser eigenes Leben mit Bedeutung auf. Aber sie haben mit den wirklichen Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht viel zu tun. Statt aufgeregt auf einen großen Knall zu warten und ihn womöglich insgeheim herbeizusehnen, damit uns die Verantwortung abgenommen wird, müssen wir nach Lösungen suchen. Und die sind häufig kleinteilig und mitunter zäh und frustrierend. Ich glaube, echtes Heldentum wächst aus der Bereitschaft, neue Wege zu gehen, sich auf Veränderungen einzulassen, für unsere Werte wieder und wieder einzustehen und der Ermüdung nicht zu erliegen.

Tatsächlich schließe auch ich katastrophale Entwicklungen nicht aus, aber ich freue mich nicht darauf. Überflutungen, Erosion, Dürreperioden und Wirbelstürme nehmen zu, Länder versinken im Meer, Wasser, Luft und Boden vergiften. Man könnte wirklich meinen, die apokalyptischen Reiter am Horizont zu sehen. Aber dagegen hilft kein Krach und Knall und keine Gewalt, dagegen helfen nur unerträglich zähe kleine Schritte der Verständigung, Verhandlung und Überzeugung.

Irgendwann beendet der Kollege seine Ansprache. Er hat sich erschöpft. Wir sitzen in ungemütlichem Schweigen, dann bedanken wir uns für den Kuchen und sagen auf Wiedersehen. Der Kollege wünscht uns nicht alles Gute – aber das wäre aus seinem Mund wohl ohnehin ein zynischer Gruß.