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Auch im letzten Advent wurde im weltbesten Netzwerk, dem Texttreff, wieder gewichtelt. Wer ein Blog hat, darf teilnehmen und gewinnt einen Gasttext. Mein Los hat Prokrastessa gezogen. Und das freut mich sehr!

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Prokrastessa stiftete mir einen Text passend zu Ihrem Blog: „Nicht mehr aufschieben. Wie ich lernte, mit der Prokrastination zu leben“. Herzlichen Dank!

Auch ihre Bekannte, Frau Fröddel, kommt mir gar nicht fremd vor. Auf meinem Sofa sitzt oft eine Schwester im Geiste und hält mich von der Arbeit ab, obwohl ich selbst nicht prokrastinieren will. Nein, meine Mitbewohnerin ist es, die mich ablenkt. Ich muss sie mal fragen, ob sie Frau Fröddel kennt. Aber hier erst mal der Wichteltext. Viel Spaß beim Lesen!

Frau Fröddel verreist

Ein Strand, Palmen, strahlblauer Himmel über strahlblauem Meer. Pfff. Das ist doch Photoshop, dachte ich. Ich drehte die Postkarte um.

sesselMeine Liebe,

schön hier, oder? Ja, mir geht es richtig gut, danke der Nachfrage. Besser jedenfalls als zu Hause. Ich hab einfach keine Lust mehr, ständig als Sündenziege herzuhalten. Jetzt mach ich einfach, wozu ich Lust habe. Und auf eins hab ich definitiv keine Lust mehr: ewig gegen Deine Verbissenheit anzukämpfen. Also bestell ich mir noch einen Cocktail, und den trinke ich auf die Freiheit!

Entspannte Grüße

Frau Fröddel

Verbissen – ich?! Frechheit. Sollte Madame doch ihren Cocktail trinken und am Strand rumliegen. Das gönnte ich ihr von Herzen. Dann ging sie nämlich nicht mir auf den Keks.

In den letzten Wochen (oder Monaten?) war unser Verhältnis nicht das beste gewesen. Ich gebe zu, ich war genervt von Frau Fröddel. Vor allem von ihrer ständigen Anwesenheit. Immer war sie da, immer! Ich wollte beim ersten Weckerklingeln aus den Federn springen, aber Frau Fröddel lag mit all ihrer trägen Masse quer über meinen Beinen – hoffnungslos, sie da runterzustoßen. Im Büro öffnete ich morgens nur die Tür, und schon schoss Frau Fröddel an mir vorbei, ließ sich bräsig auf dem Schreibtischstuhl nieder und öffnete schon mal Facebook. Abends wollte ich mein Buch lesen, aber sie stellte den Fernseher immer so laut, dass ich mich einfach nicht konzentrieren konnte und im Endeffekt wieder vor einer ihrer Lieblingsserien rumhing, eine Hand in der Chipstüte.

Letzte Woche war mir endgültig die Sicherung durchgebrannt. Ich hatte Frau Fröddel angeschrien, ob sie mich nicht mal in Ruhe lassen könnte. „Du bist schuld, dass mir der Rücken so wehtut! Hättest du mich von Anfang an meine Präsentation machen lassen, dann müsste ich jetzt nicht zehn Stunden am Tag dransitzen, um sie noch zum Termin fertig zu kriegen! Und mit dem Magen hab ich’s deshalb jetzt auch. Ist doch klar: der ganze Stress, und dann immer nur Pizzadienst und Chips. Weil dir Kochen ja immer zu anstrengend ist. Ich halt das nicht mehr aus, verdammt! Kannst du dir nicht mal eine andere Beschäftigung suchen, als immer, immer, immer mich auszubremsen?“

Frau Fröddel hatte darauf nur eine Menge halbgarer Ausflüchte vorgebracht: Man könne schließlich nicht immer nur arbeiten. Beim Surfen im Internet bliebe man schließlich auch auf dem Laufenden. Und die Präsentation würde sicher fertig; was ich mich da so aufregte? Ich hätte doch immer noch alles pünktlich hingekriegt.

„Ja, immer mit Hängen und Würgen auf den letzten Drücker!“

„Na und? Du schaffst es immer. Ist doch toll.“

Aber das brachte mich nur noch ein Stückchen höher auf die Palme. Im Laufe des folgenden Streits wurde ich immer lauter, Frau Fröddel immer kleinlauter. Irgendwann sagte sie gar nichts mehr. Während mir noch kleine Dampfwölkchen aus den Ohren stiegen, wälzte sie ihre beachtliche Wampe vom Sofa herunter, drückte mit einem letzten bedauernden Blick in Richtung Mattscheibe den Aus-Knopf auf der Fernbedienung und watschelte ins Schlafzimmer. Von dort hörte ich es rumpeln und ächzen, aber ich weigerte mich, nachschauen zu gehen. Mit verschränkten Armen saß ich am Schreibtisch, starrte meine Präsentation an und kam damit kein winziges Stück weiter.

Es dauerte nur ein paar Minuten, dann öffnete sich die Schlafzimmertür. Frau Fröddel erschien und zog einen großen Koffer hinter sich her. „Ich gehe“, verkündete sie.

Ich schwieg.

„Weg. Ich mach Urlaub.“

Ich sagte immer noch nichts. Sie seufzte. Erst als die Wohnungstür schon ins Schloss gefallen war, rang ich mir ein gemurmeltes „Mach’s gut“ ab.

Wenn Frau Fröddel meinte, sie bräuchte Urlaub – ha, andersherum wurde ein Schuh draus: Ich würde meinen Urlaub von ihr genießen! Zur Bekräftigung ging ich in die Küche und kramte die letzten verschrumpelten Möhren aus der letzten Ecke des Kühlschranks hervor. Ein Rohkostsalat, das war jetzt genau das Richtige: gesunde Energie für alles, was ich vorhatte. Und morgen würde ich Gemüse einkaufen gehen.

Tatsächlich hatte sich mein Leben seit Frau Fröddels Abreise vollkommen verändert. Morgens stellte ich mir laut Musik an, riss das Fenster auf und turnte erst mal. Danach war ich wach und fuhr voller Elan ins Büro, wo ich für drei arbeitete. Die Präsentation wurde rechtzeitig fertig, und den anstehenden Bericht legte ich meiner Chefin schon drei Tage vor Termin auf den Schreibtisch. Ihren erstaunten Blick quittierte ich mit einem stolzen Lächeln.

Abends kochte ich mich durch das Buch mit den gesunden Rezepten, das ich mir spontan gekauft hatte, und danach kuschelte ich mich in die Sofaecke, die ich nun endlich für mich hatte, und schlug ein dickes Buch auf. Jedenfalls wenn ich nichts anderes vorhatte: Denn seit ich mir zum Feierabend zufrieden auf die Schultern klopfen konnte, nahm ich mir keine Arbeit mehr mit nach Hause, wie ich es früher oft getan hatte (nur um die Aktenordner am nächsten Morgen unberührt wieder ins Büro zurück zu schleppen). Nein, ich genoss ein völlig neues Gefühl: Freizeit zu haben. Wohlverdiente Freizeit. Also rief ich endlich mal wieder meine Freunde an und verabredete mich mit ihnen.

Von Frau Fröddel hatte ich seit der Postkarte nichts mehr gehört. Ich machte mir darüber keine Gedanken. Eine regelmäßige Schreiberin war sie nie gewesen. Bestimmt ging es ihr gut – und mir ebenfalls. Ohne sie. Nur ein einziges Mal, an einem meiner gemütlichen Leseabende, durchfuhr mich das Gefühl, sie zu vermissen. Es war nur ein kurzes Ziepen, als ich mein literarisch wertvolles Buch kurz sinken ließ, weil der Spannungsbogen einen Hänger hatte (na ja, ehrlich gesagt: mehr als einen). In diesem Moment fragte ich mich, wie es in Frau Fröddels Lieblingsfernsehserie wohl weitergegangen war, und ich stelle mir vor, mich gemütlich an ihren Bauch zu kuscheln und Chips direkt aus der Tüte zu essen.

Aber ehrlich: War es nicht tausendmal besser, mit Freunden ins Theater zu gehen oder schön zu kochen? Oder natürlich zu lesen. Auch wenn ich dieses langweilige Buch jetzt wohl doch halb beendet ins Regal stellen würde. Aber da standen ja noch reichlich andere ungelesene Exemplare.

Doch mit der Zeit musste ich feststellen, dass mir zum Lesen immer weniger Zeit blieb. Mein Kalender war voll, denn je häufiger ich ins Theater ging, desto mehr Stücke fielen mir auf, die ich auch noch anschauen wollte. Außerdem hatte ich ein Ehrenamt übergenommen – das hatte schon lange auf meiner inneren To-do-Liste gestanden. Ohne Engagement konnte schließlich keine Gesellschaft funktionieren. Und es machte mir Spaß, im Vorstand des internationalen Kulturvereins mitzuarbeiten. Aber es kostete auch ganz schön viel Zeit.

Und aus dem Büro kam ich inzwischen nur noch selten pünktlich. Seit meine Chefin mir spannendere Aufgaben übertrug und immer unverhohlenere Andeutungen machte, dass sie mich für reif hielt, „den nächsten Schritt“ zu machen, arbeitete ich mehr als je zuvor. Leider wurde der Berg, der sich vor mir auftürmte, dadurch nicht kleiner. Er schien umso schneller zu wachsen, je entschlossener ich ihn in Angriff nahm.

Nach einiger Zeit gab ich das morgendliche Turnen auf, um eine halbe Stunde früher im Büro sein zu können. Hatte ich mir noch vor wenigen Wochen liebevoll Bento-Boxen für die Mittagspause gepackt (mit Gemüse und Reis und Obst und nur ein bisschen Süßem), so ging ich jetzt dazu über, mir auf dem Weg ins Büro beim Bäcker noch ein belegtes Brötchen zu kaufen, das ich mittags am Rechner in mich hineinstopfte. Wenn ich abends als Letzte das Licht in der Firma ausmachte, hatten die Läden schon lange geschlossen. Aber selbst wenn ich noch hätte einkaufen können: Mir fehlte inzwischen die Energie zum Kochen. So verbrachte ich meine Abende immer häufiger im Asia-Imbiss um die Ecke, wo ich beim Essen fasziniert koreanische Soaps im stumm geschalteten Fernseher verfolgte.

Bis ich eines Abends, den Geruch von knuspriger Ente süßsauer noch in den Haaren, die Wohnungstür aufschloss und im Flur mit der Tasche den Stapel Post von dem kleinen Tischchen fegte. Plötzlich blitzte mir etwas strahlend Blaues entgegen: die Karte von Frau Fröddel. Der Strand. Urlaub.

Urlaub.

Das Wort setzte sich in meinem Hirn fest. Ich ließ die schwere Tasche fallen und atmete tief durch. Dann ging ich ins Schlafzimmer, packen. Viel brauchte ich nicht, dort, wo Frau Fröddel hingefahren war. Ich würde sie suchen, und wenn ich sie gefunden hatte, würde ich mich neben sie aufs Sofa legen, mich gemütlich an ihre Wampe kuscheln und mir von ihr erklären lassen, was in ihrer Lieblingsserie in der Zwischenzeit passiert war. Und dann würden wir zusammen weitergucken.

Ich freute mich schon darauf.