Schlagwörter
Angst, Berlin, Demokratie, Gefühle, Ich, Meinungsfreiheit, Wir, Wut
„Du fühlst dich sicher?“, fragt sie. Und statt sich für mich zu freuen, wird sie wütend.
Wie kannst du es wagen, dich sicher zu fühlen, sagt sie. Bist du zu dumm, zu naiv, zu verlogen, um die Angst zu spüren? Wir haben Angst, sagt sie. Wir werden verraten. Wir werden alleine gelassen. Von denen. Willst du eine von denen sein?
Diese Vorwürfe werden nicht immer ausgesprochen. Aber ich lese sie in der wütenden Miene meines Gegenübers. Wer nicht einstimmt in den Chor der Wut, setzt sich ab. Lässt die anderen alleine mit ihrer Wut. Lässt sie im Stich.
Das ist der Vorwurf: Du willst nicht eine von uns sein. Wir sind die vielen. Unsere Angst, unsere Wut, wir. Wir sind es, die ernst genommen und gehört werden müssen. Wer nicht mit uns fühlt, ist ein Fremdkörper.
Eigentlich bin ich eine olle Schisserin. Ich traue mich nicht, bei Eis und Schnee Rad zu fahren. Ich traue mich nicht, vom Fünfmeterbrett zu springen. Ich traue mich oft nicht mal zu flirten, wenn mir jemand gefällt. Die Rolle der Abgeklärten, Coolen und Mutigen ist mir wahrlich nicht auf den Leib geschneidert.
Trotzdem habe ich keine Angst vor Terrorangriffen und bösen schwarzen Männern. Ich habe keine Angst, abgesehen von der Angst, die mich mein Leben lang begleitet: vor dunklen Ecken, alkoholisierten, aggressiven Kerlen, vor allem in Gruppen, vor großen Höhen, engen Tunneln, hohen Leitern, Flügen und Schiffsfahrten auf offener See und natürlich Spinnen. Spinnen sind echt eine Bedrohung. Wie gesagt, Angst ist mein ständiger Begleiter. Viele Dinge tue ich, obwohl ich Angst habe. Das gehört für mich zur Normalität. Ich bin durch lebenslanges Training sozusagen Expertin für Angstfragen, meine persönlichen Angstfragen zumindest.
Angst ist ein Gefühl, für das man sich nicht rechtfertigen muss. Ein Gefühl ist ein Gefühl ist ein Gefühl. Angst ist echt. Doch was ich daraus mache, bestimme ich. Angst zeigt mir, dass mich etwas beunruhigt. Ob die klitzekleine Spinne auf meinem Schreibtisch wirklich gefährlich ist, darüber sagt meine Angst nichts aus.
Gewalt macht mir Angst. Natürlich frage ich mich: Wie wäre es, diesem Pulk aggressiver Männer in die Arme zu laufen? Wie wäre es, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und tatsächlich einem Amokläufer, einem rechten Lynchmob, einem Selbstmordattentäter oder einem als Waffe missbrauchten Lastwagen zu begegnen? Ich bin wütend, weil Menschen von Gewalttätern verletzt und getötet werden. Ich bin traurig über die vielen verlorenen oder versehrten Leben. Ich fühle mich hilflos, wenn ich spüre, wie sich Wut und Hass ausbreiten, wenn nach Gegengewalt geschrien wird und Menschen aufgrund ihres Aussehens verdächtigt werden. Wenn wir uns nicht die Zeit und Ruhe nehmen, uns gegenseitig zuzuhören.
Ich habe all diese Gefühle und vor allem bin ich traurig. Terrorismus ist in der Welt. Die Gründe sind vielfältig und liegen auch in der Verantwortung unserer Gesellschaft. Ich bin überzeugt, Terrorismus kann nur beendet werden durch Entspannung. Durch Dialog. Durch Bildung. Durch Menschenrechte. Durch Chancengleichheit. Durch Vertrauen. Das erfordert Mut und Stärke von uns, den ganz normalen BürgerInnen, aber es gibt keinen anderen Weg.
Dabei wird es Rückschläge geben, brutale und trickreiche Angriffe von Seiten derjenigen, die von Angst und Hass profitieren und nicht wollen, dass sich Demokratie und Menschenrechte ausbreiten. Aufklärung und Verfolgung von Straftätern ist wichtig und sollte möglichst intelligent und effizient erfolgen. Aber es gibt keine Sicherheit, wenn alles zur Waffe werden kann und jeder zum Einzeltäter. Ziel von Terrorismus ist Angst, Wut, mehr Ungerechtigkeit, Verletzungen, Spaltungen der Gesellschaft. Wir und Die sollen sich misstrauisch, vorwurfsvoll und gewaltbereit gegenüberstehen. Wer Wir und Die sind, ist im Wesentlichen eine Frage des Blickwinkels.
Das sind die Wurzeln der Gewalt. Ich will nicht, dass sich Gewalt und Hass ausbreiten. Ich bin traurig über jeden einzelnen Menschen, der ihnen zum Opfer fällt. Ich bin so traurig, dass ich mutiger werde, widerspreche, deutlicher Standpunkte beziehe – für die Menschenrechte, für die Unterschiedlichkeit und Einzigartigkeit von Menschen, für die Reflexion, für die nötige Gelassenheit, herauszufinden, wie wir die Demokratie in Deutschland und Europa verbessern und mit mehr Leben füllen können. Für die Freiheit, jedes Gefühl zu haben: Freude, Verzweiflung, Traurigkeit, Liebe, Unsicherheit, Sicherheit und Angst.
Angst zu haben ist normal. Sie entzieht sich meiner Kontrolle. Was ich mit der Angst mache, kann ich entscheiden. Ich kann nachspüren. Die Leiden anderer Menschen können mir Angst machen, nicht nur aus Empathie, sondern weil sie mich an meine eigene Verletzbarkeit erinnern. Die Entwurzelung anderer Menschen kann mir Angst machen, weil mir bewusst wird, dass auch meine Wurzeln den Halt verlieren können. Die Brutalität von Menschen kann mir Angst machen, weil ich mit den Opfern fühle, selbst zum Opfer werden könnte, aber auch, weil ich mich frage, was unterscheidet mich und die Menschen in meiner Umgebung grundsätzlich von diesen Gewalttätern? Kann ich sicher sein, dass die Gewalt nicht ganz in meiner Nähe schlummert? All diese Fragen kann ich mir stellen und sie sind wichtig. Ich will meine Gefühle differenziert wahrnehmen.
Als erfahrener Angsthase frage ich mich allerdings: Haben die Menschen, die mir in letzter Zeit Angst machen wollen, wirklich Angst? In ihren Augen, in ihren Worten lese ich vor allem Wut. Und ich soll einstimmen ins Wutgeheul.
Wut ist auch ein berechtigtes Gefühl. Wut kann ein Motor sein, um Dinge zu verändern. Aber dieses Gefühl steht ebenfalls in meiner Verantwortung. Was ich niemals tun sollte: meine Wut einem anderen überlassen. Niemals sollte ich meine Wut zu „unserer Wut“ machen. Und immer sollte ich darüber nachdenken, worüber ich eigentlich wütend bin und was der richtige Weg sein kann, das zu verändern.
Meine Wut ist niemals „unsere Wut“. Ein Gefühl habe ich immer für mich alleine (sogar wenn ich jemanden liebe). Es hat mit mir ganz persönlich zu tun. Wir können uns über unsere Gefühle austauschen, aber ein Wir kann kein Gefühl haben.
Wenn Angst oder Wut von anderen eingefordert wird, dann sollen diese Gefühle einem Zweck dienen. In dem Moment, wo jemand auf meine Gefühle setzt, sie weckt, nährt oder verlangt, will dieser Mensch mich manipulieren.
Der einzige Mensch, der meine Emotionen nutzen sollte, bin ich selbst. Wenn in der Politik Emotionen eines Wirs mobilisiert werden, um bestimmte Ziele zu verfolgen, egal von welcher Seite, dann läuft etwas falsch. Meine Gefühle sind meine Gefühle, ich überlasse sie niemandem für seine Zwecke. Demokratie funktioniert so nicht. Demokratie basiert auf mündigen BürgerInnen, die ihre eigenen Gefühle wahrnehmen und reflektieren. Und dann in der Sache handeln und kommunizieren.
Eine Gesellschaft, die bestimmte Gefühle von mir einfordert, ist mir suspekt. Menschen in einer Demokratie sollten sich an Regelungen und Gesetze halten, Steuern zahlen, gerne auch nett und freundlich sein. Und sie sollten selbstverständlich akzeptieren, dass andere Menschen andere Gefühle und Meinungen haben, selbst wenn sie diese nicht nachvollziehen können. Die Gefühle sind frei.
Wenn dies nicht gelten soll, führt der Weg über kurz oder lang zur Frage, ob ich mein Land liebe. Eine Frage, die, wenn sie gestellt wird, niemals eine offene Frage ist. Denn sie fragt in Wirklichkeit: „Gehörst du zu uns oder zu den anderen?“ Wir oder die? Fisch oder Fleisch? Gut oder böse? Zweifel haben da keinen Platz. Solche Fragen mag ich nicht beantworten. Es macht mich wütend, wenn sie gestellt werden.
Meine Gefühle sind meine Gefühle. Sie sind komplex und oft widersprüchlich. Ich darf sie alle empfinden und ich darf sie alle für mich behalten. Vor einer Welt, in der mir dieses Recht abgesprochen wird, habe ich Angst. Und tatsächlich stelle ich fest: In dieser Sache fühle ich mich inzwischen weniger sicher als vor ein paar Jahren.