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WaldMein Vater ging jeden Tag in den Wald, meist alleine, manchmal durfte man ihn begleiten. Bei uns zu Hause war es laut und hektisch, im Wald kehrte Ruhe ein. Bis heute fahre ich schlagartig alle Systeme herunter, sobald ich einen Wald betrete. Mein Atem vertieft sich, mein Puls wird ruhiger, das Gewimmel in meinem Kopf legt sich und klare Gedanken treten an seine Stelle.

Es gibt eine Grenze, an der der Wald beginnt. Manchmal muss ich einen Schritt nach unten tun oder über einen Graben springen. Das Licht ändert sich, der Wald umfasst mich. Ich kann ihn spüren, riechen, hören. Bäume knarzen, schaben sich aneinander, etwas flattert auf, ein Vogel schreit, Unterholz knackt. Im Sommer vibriert der Wald. Es sprießt und krabbelt, schwirrt, knabbert, verdaut und verdörrt. In tiefen Senken steht Wasser, dunkel und gesättigt. Bei Frost ist der Wald hell, die Luft ist klar, das Leben hat sich verkrochen. Aber ich spüre, der Wald schläft und wartet. Er sammelt seine Kraft. Der nächste Sommer ist schon vorbereitet. Wie tröstlich.

Wenn nicht gerade Holzfäller am Werke sind, kann ich im Wald meine Gedanken hören. Ich laufe durch eine Welt, in der ich eine Fremde bin, die mich aber freundlich oder tolerant empfängt. Tiere beäugen mich so vorsichtig wie ich sie. Wir nehmen uns zur Kenntnis und gehen weiter. Unter den Bäumen darf ich sein und denken, was ich will. Ich fühle mich frei und unbeobachtet.

Doch ist das wahr?

Nein, es ist Waldromantik, sagt meine Freundin. Die Menschen und der Wald, sie haben eine lange Geschichte miteinander. Und wie in jeder lang andauernden Beziehung wandelt sich das Bild, das man voneinander hat. Sie hat mir viel erzählt über die Römer und das Mittelalter, über die Romantik und das Waldsterben. Menschen fürchteten den Wald, sie fanden in ihm Schutz und Nahrung, sie verloren sich in ihm, verklärten ihn und füllten ihn mit mystischen Symbolen; sie rodeten ihn, dressierten ihn und schützten ihn. Der Wald veränderte sich mit den Menschen.

Heute wird der Wald offensichtlich stark beforscht. Sie horchen an Baumstämmen und versuchen zu entschlüsseln, wie Bäume Durst, Hunger, Angst und sogar Liebe ausdrücken. Sie graben Wurzeln aus und studieren Pilzgeflechte, die mit den Bäumen in engem Austausch stehen – Spurenelemente gegen Kohlehydrate. Sie stellen fest: Bäume stillen ihre Nachkommen, die winzig bleiben, bis der Elternbaum fällt, und erst dann rasch in die Höhe schießen. Seit Jahrhunderten werden Baumstümpfe von ihrer Umgebung am Leben gehalten. Es heißt, der Wald habe ein Gedächtnis, er stehe in ständigem Austausch, er beobachte seine Umgebung und unterhalte ein Wood Wide Web (WWW) im Untergrund.

Das klingt faszinierend und zweifellos sind all dies wichtige Erkenntnisse. Ich bin dafür, den Wald zu verstehen und mit ihm artgerecht umzugehen. Natürlich. Meine Stimme habt ihr.

Aber ich stelle mir vor, beim nächsten Waldspaziergang zu ahnen: Das was ich höre, ist kein Schaben und Reiben der Baumstämme im Wind, es ist nicht nur ein kleines Tier im Unterholz. Es ist der Wald als Wir, der spricht. Es raunt und wispert, Informationen rauschen unter meinen Füßen durch das WWW.

Was, wenn das Wir nicht so freundlich ist, wie ich vermute? Was, wenn der Wald gern tratscht, hinter meinem Rücken über mich redet, sich erinnert, wie ich früher hier gegangen bin oder in einem anderen Wald, der mit diesem hier seit Jahrhunderten eng vernetzt ist. Was, wenn der Wald zu viel über mich weiß und nichts vergisst? Wenn er genau vermerkt, wann ich einen Zweig abgerissen habe, mutwillig auf einen Bovist getreten bin? Was, wenn der Wald missmutig ist, grollt und keine Menschen mag? Ich könnte es ihm nicht verdenken, denn Menschen tun dem Wald Schlimmes an. Im weltweiten Wood Wide Web ist das wahrscheinlich Thema und Skandal.

Was, wenn der Wald über mich lacht? Wie soll ich tief schürfende Gedanken haben, wenn hinter mir eine Fichte mit einer Buche über mich tuschelt? Wenn Bäume mit spitzen Nadeln auf mich zeigen, Zapfen nach mir werfen und mir Wurzelfallen stellen?

Ich will darüber lieber nicht länger nachdenken. Ich setze auf den besten Fall und glaube fest daran: Der Wald ist tolerant und freundlich, er lädt mich gerne ein, in ihm zu spazieren und meinen Gedanken nachzuhängen. Er zensiert mich nicht und trägt nichts nach. Das mag ein romantisches Bild sein, aber es gibt mir Frieden.

Außerdem gelobe ich, nie mehr ohne Not einen Ast abzuknicken oder auf einen Bovist zu treten. Und wenn er noch so schön qualmt.