Wenn ich deprimiert bin, lese ich alte Bücher, Bücher, die ich schon seit Langem kenne. Gestern griff ich nach einem besonders alten Band. Die Geschichten kamen mir bekannt vor, doch waren sie nach meiner Erinnerung etwas anders verlaufen. Ein Text riss sich los und flatterte zum Bodenlosz-Blog, bevor ich ihn fassen konnte. Und schon fand er Aufnahme, ohne Wartezeit und Registrierung. Voilà!
Haarprobleme
Es war einmal eine Frau, die lebte in einem hohen Turm inmitten eines tiefen Waldes. Sie konnte sich nicht erinnern, je an einem anderen Ort gewesen zu sein. Immer war dieses runde Zimmer ihre Welt gewesen. Sie hatte ein Fenster, durch das sie weit über den Wald blicken konnte. Über den Wipfeln flogen tags Vögel und nachts Fledermäuse. Manchmal sah sie einen Fesselballon. Sonst war sie allein.
Die Frau sammelte Krumen von ihrem Brot und fütterte damit die Vögel. Sie waren ihr einziger Besuch, abgesehen von der alten Dame. Die Alte durfte die Vögel nicht antreffen, sonst hätte sie sie verjagt. Aber zumeist kam sie immer um die gleiche Zeit, am frühen Nachmittag, so dass die Frau die Vögel schon lange vorher füttern konnte. Die Alte fuhr auf die Lichtung, lehnte das Rad unten an den Turm und rief, dass die Frau ihr Haar herunterlassen solle. Diese wickelte daraufhin ihren langen Zopf ab, so dass er vom Fenster bis auf die Wiese reichte. Die alte Dame klammerte sich am Zopf fest und die Frau zog sie nach oben. Dort angekommen, schnüffelte die Alte misstrauisch, ob auch niemand anderer dagewesen war, dann prüfte sie, ob ordentlich staubgewischt worden war, und schließlich packte sie den Proviant aus, den sie mitgebracht hatte. Die Frau auf dem Turm konnte die Alte nicht leiden, aber ohne sie wäre sie verhungert. Sie war ihr einziger Kontakt in die Außenwelt. Und so sagte sie zu ihr höflich guten Tag und auf Wiedersehen, bedankte sich für das Essen, selbst wenn es Feldsalat gab, und bemühte sich, jeden Vormittag Staub zu wischen, damit keine Klagen kamen.
Jedoch wurde die alte Dame immer gebrechlicher. Manchmal kam sie erst spät, einmal hatte sie sogar den Proviant vergessen. Schließlich kam der Tag, an dem sie gar nicht erschien. Den ganzen Nachmittag saß die Frau oben in ihrem Fenster und hielt Ausschau. Sie horchte auf das Klappern des Rades. Als es dunkel wurde, wusste sie, dass sie heute hungrig bleiben musste. Am nächsten Tag wartete sie am Fenster, sobald es hell wurde, aber wieder kam kein Besuch. So ging es eine ganze Woche. Die Frau teilte sich das Wasser gut ein, aber nun ging es zur Neige. Sie musste etwas tun, sonst würde sie verdursten. Sie überlegte fieberhaft, wie sie sich an ihrem eigenen Zopf herablassen könnte, aber sie hatte keine Idee. Der Zopf war an ihrem Kopf festgewachsen, wie sollte sie ihn da als Leiter nutzen können? Das Plumpsklo war eine zweite Öffnung nach unten, aber diese war nicht weniger steil und gefährlich und der Frau auch viel zu ekelhaft.
Sie saß also im Fenster und weinte. Ihre Krumen hatte sie sorgsam eingesammelt, damit sie selbst noch ein wenig zu essen hatte. Und so blieben auch die Vögel weg. Es war einsam. Da hörte sie eine Stimme.
„Hallo!“
Ein Mann stand vor dem Turm und starrte nach oben.
„Guten Tag“, sagte die Frau.
„Was machst du da oben? Bist du am Ende Rapunzel?“, fragte der Mann.
„Genau. Das ist mein Name“, sagte die Frau. „Und wer bist du?“
„Ich bin der Prinz.“
„Ein richtiger Prinz, wie im Märchen?“
„So ähnlich“, sagte der Mann. Von oben sah er ganz und gar unprinzlich aus. Seine Hose war ausgebeult, er hielt sich schlecht und sein Gesicht war von einem dichten, zotteligen Bart verdeckt.
„Wirst du mich retten?“, fragte Rapunzel. Sie bezweifelte, dass dieser Prinz in der Lage war, sie aus dem Turm zu holen. Aber schließlich war er doch ein Prinz.
„Ich weiß, dass ich das tun sollte“, sagte der Prinz. „Es ist meine Aufgabe.“
„Ach?“
„Ich hätte schon vor langer Zeit kommen sollen. Es tut mir sehr leid. Ich hatte zu viel zu tun. Ich fühlte mich noch nicht bereit, meine Dame zu retten.“
„Was hast du denn sonst gemacht?“
„Ich bin gereist, ich habe an Turnieren teilgenommen und viermal die blaue Minna gewonnen. Ich habe auch geübt, damit ich nichts falsch mache, wenn es darauf ankommt. Ich meine, eine Dame in Not zu retten ist eine ziemliche Verantwortung. Da habe ich mit ein paar anderen Frauen trainiert, wie sie zu retten wären, gesetzt den Fall, sie wären in Not. Das ist mir ja nicht in die Wiege gelegt mit dem Retten.“
„Aber jetzt bist du bereit, mich aus dem Turm zu holen? Ich fände das gut, denn ich bin ganz alleine und habe weder etwas zu essen noch zu trinken.“
„Oh“, sagte der Prinz und ließ den Kopf hängen. „Eigentlich wollte ich nur vorbeischauen und mich vorstellen. Ich will nichts übers Knie brechen. Wir sollten uns erstmal besser kennenlernen.“
„Wenn du noch länger wartest, dann brauchst du mich nicht mehr retten.“
„Ich fühle mich jetzt irgendwie gedrängt, ehrlich gesagt. So kann ich nicht arbeiten“, sagte der Prinz und ging einen Schritt zurück in Richtung des Weges, der auf die Lichtung führte.
„Bitte, lieber Prinz“, rief Rapunzel. „Es ist dringend. Ich fühle mich schon ganz schwach.“
Der Prinz seufzte. „Ok“, sagte er dann. „Aber beschwer dich nachher nicht, wenn es dir nicht gefällt.“
„Ich bin mit jeder Art Rettung absolut einverstanden“, sagte Rapunzel schnell.
„Und wie geht das jetzt hier?“, fragte der Prinz. „Gibt es eine versteckte Treppe, die ich finden muss? Oder eine Rosenhecke? Ich habe mein Schwert vergessen, fällt mir ein.“
„Nein, nein. Einen Augenblick“, sagte Rapunzel. Sie wickelte ihren Zopf ab und ließ ihn herunterhängen.
„Sind das deine Haare? Die sind ja ganz grau“, sagte der Prinz.
„Entschuldigung, aber die Haarfarbe ist mir ausgegangen. Sobald wir im Schloss sind, kann ich wieder blond werden. Außerdem, wenn du ein paar Jahrzehnte früher gekommen wärst, dann hätte ich noch keinen grauen Haare gehabt.“
„Ich weiß, ich bin immer an allem schuld. Am besten gehe ich einfach wieder.“
„Alles ist gut“, sagte Rapunzel. „Komm nur rauf zu mir.“
„Du meinst, ich soll an diesem dünnen Zopf da hochklettern? Das kann ich nicht. Schon in der Schule war ich im Seilklettern eine Niete.“
„Du musst dich nur festhalten und ich zieh dich rauf.“
„Niemals. Wenn das reißt? Außerdem habe ich Rücken.“
Rapunzel war langsam am Ende mit ihrer Geduld. Nicht einmal die alte Dame hatte sie so entnervt. Musste sie mit diesem Prinzen den Rest ihres Lebens verbringen? Wie war die Etikette? Und musste sie sich daran halten? Sie würde einen Ausweg finden. Zunächst musste er sie aber endlich aus dem Turm retten.
„Was ist jetzt?“, fragte sie.
„Es bleibt mir ja nichts übrig, ich riskier‘s“, sagte der Prinz. Er packte den Zopf und zerrte daran. Es ziepte, aber Rapunzel beschwerte sich nicht. Sie wollte raus aus diesem Turm und für Rettungen brauchte man einen Prinzen. So war das. Da half nichts.
Der Prinz war etwas schwerer als die alte Dame, aber wenn er sich ruhig verhalten hätte, hätte Rapunzel ihn dennoch ohne Mühe emporziehen können. Sie hatte regelmäßig ihre Armmuskeln trainiert. Doch der Prinz zappelte und schaukelte. Rapunzel umklammerte den Zopf, doch schließlich glitt er ihr aus den Händen. Mit einem Ruck fiel der Prinz mit dem Ende des Zopfs nach unten, verlor den Halt und landete in einem Dornbusch.
Er schrie und fluchte. Er hatte Rapunzel beim Sturz einige Haare ausgerissen und das tat weh, aber sie beklagte sich nicht, sondern versuchte, den Prinz zu beruhigen. Ohne Erfolg. Er murmelte etwas von Bandscheibenvorfall oder so ähnlich und humpelte demonstrativ über die Wiese, die Hand in den Rücken gestützt.
Nach einer Weile wagte Rapunzel zu fragen: „Versuchst du es jetzt noch einmal?“
„Niemals!“, schrie er. „Sobald ich wieder einigermaßen gehen kann, schleppe ich mich zum Orthopäden. Ein paar Wochen werde ich mich sicher schonen müssen, bevor ich dieses Himmelfahrtskommando noch einmal angehe. Vielleicht wird es mir der Arzt auch für alle Zeit verbieten. Ich habe es versucht, das hast du gesehen. Es sollte nicht sein. Wenn ich kann, komme ich wieder. Schließlich bin ich ein Prinz und zu deiner Rettung da. Drück mir einstweilen die Daumen, dass alles glimpflich verläuft.“ Er humpelte zum Weg und in den Wald zurück.
Rapunzel saß im Fenster und fing wieder an zu weinen. Sie hatte schrecklichen Durst, aber immer noch flossen die Tränen. Eigentlich ein Wunder der Natur, dachte sie. Dann rief sie sich zur Ordnung. Jetzt war nicht die Zeit für Grübeleien über Physiologie. Sie musste eine Lösung finden.
Sie holte den Zopf hinauf und legte ihn auf dem Boden. Tatsächlich sah ihr Haar schrecklich aus. Es war trocken und stumpf. Sie hatte kein Wasser, um es zu pflegen, geschweige denn eine Kurpackung. Wahrscheinlich ließ sie das graue, spröde Haar älter aussehen, als sie war. Unpraktisch war der Zopf ohnehin. Sie musste ihn viele Male um ihren Körper winden und das störte bei der Hausarbeit.
Sie glaubte nicht, dass der Prinz zurückkommen würde. Bestimmt nicht rechtzeitig, um ihr helfen zu können. Dann brauchte sie den Zopf nicht mehr behalten, beschloss sie. Sie griff nach der Küchenschere und schnitt den alten Zopf entschlossen ab.
Im Spiegel sah die neue Frisur nicht schlecht aus. Tatsächlich wirkte sie jünger und weniger hausbacken. So alt war sie noch nicht. Die besten Jahre lagen vor ihr. Sie wollte hier nicht vor Hunger und Durst sterben.
Ihr Blick fiel wieder auf den Zopf. Es war so simpel, sie hätte sich ohrfeigen können. Sie fasste den Zopf auch oben fest mit einer Schnur zusammen. Dann band sie ihn am Bettpfosten fest und ließ ihn durch das Fenster nach unten baumeln. Sie würde ein Stück springen müssen, aber lieber ein gebrochenes Bein oder, wie hatte das geheißen, einen Bandschleifenverfall, als hier oben zugrunde gehen.
Sie schwang sich aus dem Fenster und hangelte sich mit ihren wohltrainierten Armen nach unten. Als sie nach dem Sprung landete, fiel sie hin. Vorsichtig prüfte sie ihre Gelenke, aber alles schien in bester Ordnung. Die Wiese duftete nach Sommerblüten. Eine Hummel brummte an ihrem Gesicht vorbei. Sie stand auf, klopfte sich den Staub von den Gewändern und ging los. Zuerst musste sie eine Quelle finden. Dann stand ihr die Welt offen.
Mitzi Irsaj sagte:
Diese Geschichte mag ich sehr.
Niemand braucht Prinzen.
Jetzt müssen wir nur noch aufhören auf sie zu warten…
Nina Bodenlosz sagte:
Danke!
Ich finde, wenn Prinzen ein Extra sind, dann können sie wunderbar sein. Aber das Leben ist zu kurz, um auf sie zu warten.
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