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hochstapelnNeulich war jemand ehrlich begeistert von mir. Ich erschrak. Was wird die Strafe sein, wenn sie merkt, dass es hier nichts zu begeistern gibt? Dass ich ihr etwas vorgegaukelt habe? Dass ich sie nicht bewusst betrogen habe, gilt nicht als Ausrede. Ich sollte dieser Frau in Zukunft aus dem Weg gehen, ihre Stadt meiden, den Kontinent wechseln, meinen Namen ändern.

Der Erfolg ruft ihn wach, den Hochstaplereffekt. Nicht nur bei mir. Vor allem Frauen kennen ihn. Sie fürchten, enttarnt zu werden. Nachts ein Anruf: „Sie wissen, dass du in Wirklichkeit nichts kannst“, und schon wären die Koffer gepackt.

Solange die Anerkennung sich in Grenzen hält, ist bei mir alles in Ordnung. Ich akzeptiere, was ich glaube, verdient zu haben. „Ist schon ok“, halte ich für angemessen. Aber wehe, es hagelt Lob. Das löst bei mir Panik aus. Wie kann sich mein Gegenüber so in mir täuschen? Und vor allem: Was habe ich getan, um es zu blenden? Was wird geschehen, wenn sich herausstellt, dass alles Lüge ist?

Nichts scheint mir peinlicher zu sein, als überschätzt zu werden. Am liebsten halte ich mich im Mittelfeld auf: besser nicht auffallen. Wer gesehen wird, ist exponiert. In der Schule genoss ich die Zeit zu Beginn des Schuljahres, wenn die neuen LehrerInnen noch nicht wussten, dass ich eine gute Schülerin war. Ich versteckte mich in der Masse, sie übersahen mich und ich fühlte mich sicher. Erst nach der ersten Schulaufgabe forderten sie mich auf, etwas zum Unterricht beizutragen. Inzwischen stelle ich zwar in Seminaren Nachfragen, aber mir ist immer noch nicht wohl dabei, mit einer richtigen Antwort nach vorne zu preschen.

Ausgerechnet die Hochstapler und Hochstaplerinnen scheinen den Hochstaplerkomplex gar nicht zu haben. Sie tun alles dafür, mehr zu gelten, als sie sind. Sie haben offensichtlich grenzenloses Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Menschen am Knie operieren ohne Medizinstudium? Warum denn nicht? Solange man vorher bei Wikipedia nachschlägt, wie es geht, kann ja nichts schiefgehen.

Ich hoffe, dass meine Ärztin eine richtige Ausbildung hat. Aber dennoch muss sie ständig hochstapeln. Sie kann nicht alles mit Sicherheit wissen. Sie macht Fehler. Und sie muss das riskieren, sonst könnte sie nicht arbeiten.

Wahrscheinlich kann man keinen Erfolg haben, ohne ein Stück weit hochzustapeln. „Kein Problem, das wird fristgerecht fertig“ sagen, obwohl man noch gar nicht angefangen hat und nicht weiß, ob heute Nacht ein Meteorit auf Berlin fallen und alles auslöschen wird. Den schönsten Mann weit und breit anlächeln, obwohl die Stimme in meinem Kopf warnt, dass das nicht angemessen ist und eine Strafe nach sich ziehen wird. Ich fürchte, ohne Wagemut bekommt man nie das Beste.

Ich sollte also daran arbeiten, höher zu stapeln. Zur Hochstaplerin in zehn Schritten, wenn es so einen Ratgeber gäbe, ich würde ihn sofort kaufen. Obwohl, ob ich ihn umsetzen könnte …

Da war es wieder, das Syndrom. Natürlich kann ich! Im Grunde brauche ich gar keinen Ratgeber. Ich kann schon hochstapeln, ich muss es nur tun. Beim nächsten Lob sage ich mir: Endlich sieht jemand, was ich kann. Geht doch. Mehr davon!

Sollte nicht jeden Tag jemand von mir begeistert sein?

Am besten sollte ich mir ein Buch über Chirurgie kaufen. Dann könnte ich in ein paar Wochen als Chefärztin anheuern. Ich kann das. Das wäre doch gelacht. Andere Hochstapler schaffen es auch.